Archiv für den Monat April 2012
Breivik … oder: zieht eure Schlüsse!
Ekelerregend sei er, ein Tier, ein Wahnsinniger – das kann man lesen und hören, immer dann, wenn von Anders Breivik die Rede ist. Man solle ihm keine Bühne geben, und gerne auch immer wieder die Frage, ob dieser Mann zurechnungsfähig ist.
Ich bin weder Psychiater noch Psychologe, aber ich bin mir trotzdem verdammt sicher, dass er es ist. Jemand, der nicht zurechnungsfähig ist, wird entweder von starken Trieben oder ernsthaften Störungen zu dem getrieben, was er tut. Breivik nicht, der ist kalt, berechnend und logisch. Und wenn er ernsthafte Störungen hat, dann welche, die verdammt weit verbreitet sind.
Breivik hat Gedanken zu Ende gebracht, die überall vorgedacht werden. Jeder, der von Islamisierung redet, von Überfremdung, jeder, der es in Ordnung findet, dass die Gideons ihre Bibeln verteilen, aber Muslimen das Verteilen von Koranen verbieten will – alle die denken die Gedanken des Anders Breivik, nur eben nicht so weit, nicht zu Ende.
Erforscht man sich ehrlich selbst, dann wird jeder die eigenen Ressentiments erkennen. Es ist mir so gegangen und geht mir immer noch oft so. Was denke ich, wenn mir ein paar lautstarke arabische Jugendliche entgegen kommen? Obwohl ich doch auch mal ein Jugendlicher war, und auch schon mal lautstark. Was erwarte ich, wenn mir schwarze Menschen entgegen kommen, oder asiatische oder was auch immer? Was denke ich bei Homosexuellen? Oder Transsexuellen? Ich belüge mich nicht, ich habe manchmal seltsame Gefühle, Vorurteile – mein Verstand sagt, dass diese Ressentiments Unsinn sind, und ich versuche das auch immer im Vordergrund zu halten.
Wer sich aber diese durch Erziehung und Umwelt eingeimpften Vorurteile nicht bewusst macht, der wird gedanklich natürlich auch dadurch geprägt – und dann muss man diese Vorurteile auch in klare Gedanken fassen. Man muss sich diese Vorurteile irgendwie erhalten und begründen. Und so wachsen diese Ideen, die im Endeffekt zu solchen Begebenheiten wie Utøya führen. Ideen, die auf Begriffen basieren, die leider eben doch nicht überwunden sind. Begriffe wie Ehre, Reinheit und Stolz – wohlgemerkt nicht auf etwas, was man geschafft hat, oder zumindest ermöglicht, sondern auf Dinge, die rein zufällig sind. Viele dieser Begriffe sind religiös geprägt, andere stammen aus Zeiten, in denen sich Nationen fast gewohnheitsmäßig gegenseitig gemetzelt haben. Mit solchen Begriffen kann man ganz großartig klingende Gedankengebäude aufbauen, die nur leider immer darauf basieren, dass manchen Menschen besser sind als andere.
Vielleicht ist das sogar wahr, vielleicht sind sogar manche Menschen besser als andere, zum Beispiel, weil sie sinnvolle Arbeit machen, weil sie helfen und weil sie keinen Gedanken daran verschwenden, möglichst viel Geld zusammen zu kratzen, sondern selbst glücklich zu leben, und möglichst viele andere Menschen auch glücklich zu machen. Aber das kann ins Poesiealbum, auf jeden Fall ist niemand besser als andere, weil er weißer, männlicher oder weiblicher, christlicher oder muslimischer, noch nicht mal weil er atheistischer ist als andere, NIEMAND, KEINER. Ich hoffe, dass ist jetzt deutlich geworden. Und immer, wenn irgendwelche archaischen Gedanken im Hinterkopf etwas anderes behaupten, dann muss man aktiv im Kopf werden, diesen Gedanken dahin verweisen, wo er hin gehört, in den Restmüll – bloß nicht auf den Kompost, da kriegen die nur wieder neue Wurzeln …
Wie also kann man gegen die Breiviks dieser Welt vorgehen? Der Pessimist sagt natürlich: „Gar nicht!“ Doch es passt mir gerade gar nicht Pessimist zu sein – wenn dem so wäre, müsste ich mich heute noch umbringen. Nein, ich bin Optimist, ich träume von der perfekten Welt, und in dieser perfekten Welt, würden alle, ja ALLE, immer und immer wieder an sich arbeiten, nicht auf die kleinsten rassistischen, intoleranten Ideen anzuspringen. Jeder Erwachsene würde es sich zur Aufgabe machen, die nächste Generation von solchen Ideen fern zu halten, statt sie ihr einzuimpfen.
Man hört in diesem eigentlich wunderbaren Haufen, der sich Piratenpartei nennt, immer wieder Einzelstimmen, die sagen, es müssten auch Idioten zu Wort kommen, wir hätten schließlich Meinungsfreiheit, treten offen für sie ein. Ja, das tun wir, Meinungsfreiheit ist richtig wichtig – so lange die Meinungen nicht menschenverachtend sind, da gibt es dann eine Grenze, die überschritten wird. Und da müssen wir hart und konsequent gegen arbeiten. Ja, ich oute mich hier als Nazibeißer. Ich werde nicht die Klappe halten, wenn wie zuletzt eindeutig antisemitische Töne auf der Mailingliste gespuckt zu werden, ich will keinen Rassismus, in welcher Form auch immer. Ich werde da auch gerne mal deutlich, oft auch extrem boshaft, nutze ebenso gerne meine einigermaßen vorhandenen sprachlichen Mittel – und lade alle ein, ebenso zu handeln. Piraten sollten es sich nicht leisten, sich von solchen Stimmen vom wirklich guten Weg abbringen zu lassen.
Da steckt ja auch der verwesende Hund, den man doch nicht begraben hat – es bringt nichts, in alle Richtungen zu zeigen, während man selbst sich nicht mit aller Konsequenz dran macht, die eigenen bescheuerten Gedanken auszumerzen. Und wenn man dann so einigermaßen mit sich selbst im Reinen ist, ohne in der internen Antiidiotenarbeit nachzulassen, dann muss man erst mal in der eigenen Partei schauen, im eigenen Umfeld, und dann hat man vielleicht auch irgendwann eine Chance, anderen Gruppen und anderen Parteien zu helfen, aus diesen doofen Gedanken herauszukommen. Wenn ich lese, man sollte Breivik keine Bühne geben, dann kann ich das verstehen, glaube aber, dass das kurzsichtig ist. Es geht da nämlich gar nicht drum. Lasst den Mann reden und nutzt die Situation, um die Menschenverachtung seiner Gedanken klar zu machen. Zieht eure Schlüsse, kämpft nicht gegen den Mann, kämpft gegen seine Ideen – nicht durch Verschweigen, sondern durch Gegenrede! Wir müssen einfach alle Fernsehverblödung abwerfen, selber denken und diskutieren, manchmal erregt, manchmal nüchtern, aber wir müssen reden, aufklären und diskutieren – so bekämpft man rechte Idioten, nicht mit Hilfe des Verfassungsschutzes.
Quick – … da wird kein Grass drüber wachsen …
Ja, das „Gedicht“ von Günter Grass ist schon ein paar Tage alt, aber es hilft ja gar nichts, man muss sich seine Gedanken dazu machen. Das liegt vor allem an den Diskussionen, die sich an die Veröffentlichung des Textes angeschlossen haben. Aber kurz zu den Zeilen des Herrn Grass, die ich nicht Gedicht nennen möchte, weil sie keinerlei künstlerischen Ansatz haben – es ist nicht kein Gedicht, weil es sich nicht reimt, wie in paar Vollpfosten gerne mal anführen, es ist kein Gedicht, weil es in Prosa gehaltene politische Aussage ist – man kann einem Nobelpreisträger vielleicht eine solche Deklarierung durchgehen lassen, ich will aber nicht. Nur weil der Mann steinalt ist, braucht er nicht mit so einem Quatsch anfangen.
Das gilt auch für den Inhalt. Vieles davon ist ja völlig richtig, aber in die falsche Richtung zugespitzt. Ja, dass Israel ein U-Boot geliefert wird, ist falsch. In eine solche Region darf man keine Waffen liefern. Mal ganz ernsthaft, ich sehe eigentlich überhaupt keinen Sinn darin, solche Waffen in alle Welt zu verkaufen. Die Regierung, die solche Exporte genehmigt, ist für alles Leid, das mit den Waffen angerichtet wird, mitverantwortlich. Dass das Wort „Erstschlag“ wieder ausgesprochen wird, finde ich erschreckend. Ich bin ein Kind des Kalten Krieges, mit den Bedrohungen dieser Zeit aufgewachsen, und ich habe einfach keinen Bock, dass irgendwer auf der Welt wieder solche Gedanken hegt.
Aber lieber Herr Grass, wie kann man diese wirklich blöden Erstschlagsideen mit dem Holocaust vergleichen? Wie kann man das Regime des Irans einfach mal verharmlosen, und dabei auch noch vorschicken, dass man ja eh mit dem Antisemitismusvorwurf gescholten werden wird. Das sind ja gleich drei Gründe, warum man sehr ernsthaft desselben verdächtigt werden darf. Clever ist anders, und wenn ich so etwas wie ein politisches Gewissen sein will, meine Stimme als Intellektueller erhebe, wie kann ich dann so dumm handeln?
Schaut man sich die Gesamtsituation an, den Grundkonflikt Israel vs. Iran, dann merken wir ganz schnell, wo es auf der Welt an Aufklärung ganz dringend fehlt. Da hilft es keinen Deut, dass die einen sagen, wir stammen von hier, wir haben ein historisches Recht auf diesen Staat, und die anderen sagen, ihr habt da Jahrhunderte nicht gelebt, die Gründung eures Staates war gemein und wir finden euch eh doof. Was für eine kranke Scheiße!
Die Situation ist, wie sie ist, Israel ist ein existierender Staat, und das ist auch in Ordnung so. Die, die an der Gründung beteiligt waren, sind heute tot oder noch älter als unser Literaturgreis Grass, Ungeschehen macht man da gar nichts mehr, und natürlich hat Israel ein Existenzrecht, es existiert doch, oder?
Andererseits hat Israel in seiner nun auch gar nicht mehr so kurzen Geschichte fast ständig Kriege geführt. Da stimmt auch etwas überhaupt nicht. Rechtsextreme Siedler, orthodoxe Spinner – einen religiösen Rassismus gibt es durchaus nicht nur auf der Seite des Irans, der ist in Israel genauso verbreitet – und nicht nur da, sondern auch in dem Land, dass Israel sicherster Bündnispartner ist, also in der USA. Und wenn uns das noch so archaisch und hirnverbrannt vorkommt, religiöse Brandstifter aller drei monotheistischen Religionen heizen das Feuer im nahen Osten seit Jahen immer stärker an.
Ich habe verdammt wenig Hoffnung, dass die Vernunft, die sich in den diversen demokratischen Gegenbewegungen artikuliert, egal ob Occupy, Piraten oder Anonymus, in den Nahen Osten ernsthaft einziehen wird, bevor die ganze Ecke hochgeht.
Wir müssen uns hier über einen gemeinsamen Feind klar werden. Es geht um die religiöse Rechte, um die Rassisten dieser Welt. Es geht um die Sektierer und Prediger, die im Namen ihres ironischerweise auch noch gleichen Gottes den Hass herunterbeten und den Kindern dieser Welt einpflanzen.
Diese Feinde gibt es im Nahen Osten, keine Frage, und es ist keineswegs antisemitisch, darauf hinzuweisen, dass es in Israel viel zu viele davon gibt. Es gibt sie auch bei uns. Die Typen, die in christlichen Sekten oder bei kreuz.net ihren Hass herauskübeln, aber auch die einfachen Rassisten bei pi, die Sarrazins und Broders, die jedes islamophobe Vorurteil salonfähig machen wollen.
Es gibt die Islamisten, die ihren Kindern den Schwimmunterricht verbieten und sie möglichst früh indoktrinieren wollen. In deren Familien alles verpönt ist, was für uns normal ist, die sich mit den Christen an der Hand halten könnten, wenn sie Frauen unterdrücken, ihre Kinder mit Moralvorstellungen über Sex unterwerfen und demütigen.
Wir haben nun dieses Internet, diesen wunderbaren Ort, an dem sich jeder Aufklärung holen kann, wenn er nicht auf die dunkle Seite abdriftet, auf die Seiten der Verdummer, der Rassisten und Diskriminierer. Wir müssen alle dran arbeiten, gegen religiösen Wahn und Rassismus vorzugehen, wir müssen hier bei uns anfangen und alle Welt ermutigen, genauso zu handeln – dann sind Erstschläge und Auslöschungen vielleicht irgendwann Vokabular aus dem Mittelalter.