Archiv für den Monat Januar 2015
Die modernen Woyzecks
Ja, Andres, der Platz ist verflucht. Siehst Du den lichten Streif da über das Gras hin, wo die Schwämme so nachwachsen? Da rollt abends der Kopf. Es hob ihn einmal einer auf, er meint‘, es wär ein Igel: drei Tag und drei Nächt, er lag auf den Hobelspänen. – Andres, das waren die Freimaurer! Ich hab’s, die Freimaurer!
Das lässt Georg Büchner seinen Woyzeck sagen, den armen verwirrten Woyzeck, der am Ende seine Marie umbringt, sie ersticht, weil die Stimmen es ihm sagen. Woyzeck ist ein Opfer seiner Gesellschaft. Sein Hauptmann macht sich über ihn lustig, seine Partnerin macht mit dem Tabourmajor rum, und der Arzt macht seine lustigen Menschenversuche an dem, der sich nicht wehren kann. Und ja, eine Ernährung nur auf Erbsenbasis kann wohl auch aufs Hirn schlagen.
Und dann ist es auch kein Wunder, dass der gute Woyzeck – statt seine Peiniger zu erkennen, seine üble Verfassung auf die Freimaurer schiebt, die vermutlich eine Weltverschwörung anführen, wer weiß das schon.
Freimaurer sind bis heute auf der Liste der möglichen Weltverschwörer relativ weit oben. Der Grund dafür ist ganz einfach – sie machen sich selbst recht geheimnisvoll, erzählen bis heute nicht, was sie so wirklich tun, wenn sie in ihren Tempeln zusammenkommen und an sich arbeiten. Aber es gibt ja noch viel mehr, die in der großen Weltverschwörung zusammenarbeiten, CIA und Mossad natürlich, und wenn wir schon bei einer israelischen Einrichtung sind, dann kommt die jüdisch geprägte Hochfinanz, die Rothschilds und wen es da sonst noch so gibt. Und so sicher wie Elvis noch lebt, mit Marylin Monroe vermutlich noch irgendwo in einem Altersheim vor sich hin vegetiert, so sicher inszeniert die Weltverschwörung grundsätzlich jeden größeren Angriff auf die sogenannte „freie Welt“ selbst. Bei 9/11 haben gar keine religiösen Wirrköpfe am Steuer gesessen, das war die CIA, und genauso hat der Mossad jetzt den Angriff auf Charlie Hebdo und den koscheren Supermarkt (sic!) in Paris zu verantworten.
Das reiht sich ein in eine gefakte Mondlandung und Chemtrails, die vermutlich gerade mein Gehirn so beeinflussen, dass ich diesen Artikel verfasse. Es ist ja auch kein Wunder, das menschliche Gehirn ist immer auf der Suche nach Geheimnissen, nach ominösen Fragen, und es findet Muster selbst da, wo es keine gibt. Wie man beim Pokern Glücks- und Pechsträhnen verspürt, und sehr schnell den Kartengeber verdächtigt, wenn hier und da die Wunderkarte kommt, genauso reimt sich das Hirn – immer auf der Suche nach Erklärungen – schnell mal ein paar nicht direkt zu verstehende Details zusammen und baut daraus lustige Theorien. Und wie Woyzeck glauben auch heute Menschen an ihre „Freimaurer“ – und lassen sich nicht selten durch Verschwörungstheorien dann auch in die eine oder andere Richtung manipulieren.
Letztlich sind diese Verschwörungstheorien, egal wie mehr oder weniger glaubhaft sie daher kommen, egal, wie weit sie hergeholt scheinen, immer auch der Schrei nach der einfachen Lösung in einer hochkomplizierten Welt. Eine einfache Lösung, Putin ist gut, der Westen schlecht, oder vielleicht doch die Juden böse und die Moslems gut und was es da noch alles gibt. Letztlich geht es da immer darum, die Welt in schwarz und weiß einzuteilen. In einem inzwischen recht großen Teil unserer Podcasts haben der gute @ThoroughT und ich immer wieder gesagt, dass das eigentliche Kunststück immer sein muss, beide Seiten scheiße finden zu können. Putin ist nicht weit von einem Diktator entfernt und es gibt da eine Menge Mist in Russland, aber die EU hat sich auch nur um ihre eigenen strategischen Interessen gekümmert und Russlands Interessen nicht ernstgenommen – und beide Seiten sind daran schuld, dass in der Ukraine Krieg herrscht. Amerikas imperialistische Attitüde ist Mist, Drohnenmorde sind Mist, aber die Hamas ist auch Mist, IS und Boko Haram sind gefährliche Irre. Und die rassistischen Karikaturen von Charle Hebdo kann und sollte man zu Recht kritisieren, sie rechtfertigen aber keine Morde. Und nein, die Karikaturisten des Charlie Hebdo wurden nicht vom Mossad ermordet, sondern von religiösen Fundamentalisten, die wie alle religiösen Fundamentalisten sicher sind, sie dürften Ungläubige umbringen, weil sie die einzige Wahrheit besitzen.
Aber wenn man seine Meinung schon mal fertig hat, das Weltbild unverrückbar wird, dann muss man neue Ereignisse halt sinnvoll einbauen, was in immer neuen Verschwörungstheorien mündet, denn wenn man einmal mit sowas anfängt, dann kommt man da gedanklich ja auch nicht mehr so wirklich raus. Das ist übrigens ganz offenbar dann auch weniger anstrengend, als die immer wieder neuen Situationen auch immer wieder neu einzuordnen. Weniger anstrengend, als Meinungen auch mal zu ändern, Menschen anders zu bewerten, Hoffnungen zu begraben oder auch mal Vertrauen in Menschen zu setzen, denen man bisher nicht vertrauen konnte – neue Argumente annehmen und auf sie zu hören, kann spannend sein, kostet aber mehr Kraft.
Woyzeck glaubt an die Weltverschwörung durch die Freimaurer. Er kann sich nicht gegen den Doktor und den Hauptmann durchsetzen, wird vom Tambourmajor von seiner Marie verjagt. Genauso kommen mir die Verschwörungstheortiker heute auch vor. Politisch ohnmächtig und zu ängstlich, die Systemfragen zu stellen, Wachstum und Kapitalismus in Frage zu stellen, Nationalstaaten als Konstrukte zu erkennen, die letztlich überwunden werden können. Man fürchtet sich lieber wie Woyzeck vor „DENEN“, vor der Welt, vor einer Weltverschwörung, anstatt zu schauen, wer die wirklichen Unterdrücker sind. Die Pediga-Spazierer schieben es auf die Muslime, die Friedenswinter-Leute auf die Juden – aber wenn es einen Krieg gibt, dann schaut doch bitte auf diese Meldung, und sucht ihn da, es ist ein Krieg REICH gegen arm.