Archiv für den Monat Dezember 2015

Rechtsstaat?!

Hm, ich hör immer Rechtsstaat. Ich höre, wie wichtig der ist. Ich höre verschiedenste Definitionen, was ein Rechtsstaat eigentlich ist. Ich muss das mal klar bekommen. Und da ich mich gerade durch mein entzückendes Fernstudium eh mit Rechtsphilosophie beschäftige, kann ich da auch gleich noch mit einem passenden Denker aufwarten.

Ich schaue mal bei Hans Kelsen. Der hat den im heutigen Rechtsdenken vorherrschenden Rechtspositivismus mitbegründet. Rechtspositivismus ist, wenn man sich quasi nur mit den bestehenden Gesetzen beschäftigt, und die Juristerei streng von so was Unpraktischem wie Vernunft und Moral abkoppelt. Prinzipiell halte ich Rechtspositivismus für zumindest mal sehr bedenklich, denn ich hänge doch eher dem Vernunftsrecht an, aber nun gut, dafür ist Kelsen auf jeden Fall stringent und in diesem Fall eigentlich ganz gut um Definitionen zu suchen.

Für Kelsen ist der Rechtsstaat überall da zu finden, wo auf der aktuellen Gesetzlage begründet Recht gesprochen wird. Als er Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts sein Hauptwerk schrieb, fand er durchaus im faschistischen Italien oder dem kommunistischen Russland Rechtsstaaten vor. Und floh dann selbst vor dem deutsch-faschistischen Rechtsstaat.

Die erste Erkenntnis kann also nur sein, dass ein Rechtsstaat an und für sich den moralischen Wert eines Schraubenziehers hat, er ist ein Werkzeug – und dem würde auch Kelsen sofort zustimmen, denn für ihn hatte das Recht nichts mit Moral zu tun. Rechtsstaat ist nicht von sich aus gut, der Rechtsstaat ist nur ein soziales Werkzeug, mit dem man prinzipiell vieles erreichen kann, im Glücksfall ein für alle einigermaßen freies und gerechtes Leben, oder aber auch die völlige Unterwerfung unter Normen, die menschenverachtend und –feindlich sind. Man darf nicht vergessen, dass auch Vernichtungslager wie alle KZs einen Rechtsstatus hatten, der nach rein positivistischer Sicht sämtliche Massenmorde legal machte. Ist Rechtsstaatlichkeit also ein positiver Wert? Von sich aus eindeutig nicht.

Wir als Gesellschaft können den Rechtsstaat aber durchaus als Werkzeug nutzen. Zum Rechtsstaat gehören so schlichte Sachen, dass man sich auf einige Sachen verlassen kann, dass man nicht aufs Maul kriegt, wenn man nicht selbst auch aggro unterwegs ist, dass der Straßenverkehr funktioniert, dass für alle die gleichen Rechte gelten, dass man Einspruchrechte und ähnliches hat – es gibt da eine Menge, was prinzipiell nicht falsch ist. Rechtsstaatlichkeit sorgt im Großen dafür, dass der Laden läuft.

Schaut man auf die Judikative funktioniert bei uns der Rechtsstaat auch relativ gut – außer vielleicht, dass Richter kaum weniger am Rande ihrer Belastungsgrenzen stehen, wie alle anderen öffentlichen Systeme, weil der Staat zu wenig Geld hat, um den Apparat vernünftig zu unterhalten. Aber über die Judikative gibt es relativ wenig zu meckern, auch da gibt es manchmal schlimme Dinge, aber das System läuft auf Menschenbasis, Menschen sind extrem fehlbar, das ist alles einsehbar.

Bei der Exekutive sieht es deutlich schlechter aus – und hier muss ich mal kurz zurück zu Herrn Kelsen, dessen bestechend einfaches System in etwa sagt, dass Exekutive letztlich mit der Judikative zusammen einen Block bilden, der den Rechtsstaat ausmacht. Und bei unserer Exekutive muss man dann den Rechtsstaat in Frage stellen.  Denn die Voraussetzung ist ja, dass alle nach den gleichen Normen behandelt werden.  Öffnet man die Äuglein, so findet man diese Voraussetzung nicht mehr vor.

Vor ein paar Tagen konnten Pegida-Anhänger von der Polizei unbedrängt Menschen in der Dresdener Innenstadt jagen. Der NSU hatte nach allem, was wir wissen, erstens nicht nur geschlossene Augen beim Verfassungsschutz, sondern eher sogar Freunde und Unterstützer. Die offizielle Statistik, wie viele Menschen seit der Wiedervereinigung von Nazis in Deutschland ermordet wurden, ist so fehlerhaft, dass kein seriöses Medium deren Zahlen zitieren möchte. Kurz und gut, die bundesdeutsche Exekutive hat im Bereich Polizei und bei den Geheimdiensten, teilweise auch im Bereich der Staatsanwaltschaften ein massives Problem. Rechter Terror wird nicht bekämpft, rechte Mörder nicht gejagt und Menschen, die ausländisch oder links aussehen, werden nicht beschützt und sind speziell von Seiten der Polizei immer wieder schweren Repressionen ausgesetzt.

Da werden die Normen nicht für alle gleich durchgesetzt. Es ist eine Binsenweisheit, dass man auf linken Demos keinen Schal umziehen kann, weil man sofort als vermummt gilt und schwer gerüstete Polizisten einem auf Maul hauen, während auf jeder Pegida- oder sonstiger Nazi-Demo Hitlergruß gezeigt wird – was ebenfalls verboten ist – und die Polizei macht nur seltenst etwas dagegen. Und damit ist der Rechtsstaat nicht mehr vorhanden. (Hier kann man, da die Vorfälle weit oberhalb aller Signifikanzgrenzen, auch nicht von menschlichen Fehlern sprechen, da werden sehr absichtlich menschenfeindliche Fehler gemacht.) Und da ist auch so ein Problem – wenn nämlich an einer Stelle der Rechtsstaat bröckelt, ist er nirgends mehr garantiert. Vertrauen in die Exekutive ist immer so eine Sache und eine gesunde Skepsis gegenüber der Staatsmacht ist immer sinnvoll, aber inzwischen ist immer häufiger die Staatsmacht eindeutig auf der Seite, vor der Hans Kelsen einst floh.

Was bedeutet es, wenn der Rechtsstaat einseitig aufgekündigt wird? Und allein das Thema NSU würde als Beweis dafür schon reichen. Es gibt aber noch mehr, die Abkürzung NSA reicht genauso aus. Und alles Mögliche andere, was ich oben erwähnt habe. Wenn der Staat seine Rechtsstaatlichkeit aufkündigt, dann bedeutet das Willkür. Es bedeutet, dass wir nicht mehr auf den Staat vertrauen können. Es bedeutet, dass wir Angst haben müssen.

Es bedeutet aber auch, dass wir als Gesellschaft dafür sorgen müssen, dass die erschreckenden Zustände beendet werden. Es bedeutet, dass wir um und gegen diesen Staat und um unsere Rechte kämpfen müssen. Politisch und auf der Straße, und immer mit einem Auge auf die Verhältnismäßigkeit, mit jedem anderen Mittel, das wir finden.