Archiv für den Monat Juni 2021

Der Trafikant von Robert Seethaler – Rezension

In NRW gibt es neue Deutschlektüren für die Oberstufe und sie sind ausnahmsweise mal nicht zweihundert Jahre alt. Na, da schau ich mir die doch mal an.

Den Anfang macht Der Trafikant von Robert Seethaler, ein Roman aus dem Jahr 2012. Er spielt allerdings rund um das Jahr 1938 in Wien – und Österreich bringt uns dann auch schon mal dem Titel näher, denn eine Trafik ist das, was auf Hochdeutsch ein Kiosk ist, ein Zeitungs- und Raucherbedarfladen.

Franz hatte bisher ein gutes Leben, da seine Mutter die Geliebte des reichsten Mannes im Salzkammergut war. Der wurde aber gerade vom Blitz erschlagen und jetzt braucht Franz einen Job. So schickt ihn die Frau Mama nach Wien zu ihrem alten Freund Otto Trsnjek, der als Kriegsversehrter aus dem Ersten Weltkrieg eine Trafik führt. Dort soll Franz der Lehrbub werden.

In Wien angekommen, macht Franz unter anderem die Bekanntschaft von Siegmund Freud, der, inzwischen schon über achtzig Jahre alt, immer noch in Wien praktiziert, und der ein Kunde der Trafik ist. Und er ist nicht der einzige Jude, der Stammkunde bei Otto Trnsjek ist, was kurz vor der Annektion Österreichs durch das deutsche Nazireich so ein Problem für sich ist.

Aber Franz sucht erst mal nach einem Mädchen, weil der Herr Professor Freud ihm dazu geraten hat. Und so findet er die junge Tchechin Anezka, die ihm das eine oder andere Mal das Herz brechen wird.

Wie schon in der Inhaltsangabe zu merken ist – weil ich mich etwas der Sprache des Romans angepasst habe, was ich den Schüler*innen in ihren Klausuren nicht empfehlen würde – klingt dieser Roman von 2012 eher wie ein Roman von 1920 und dann auch noch recht österreichisch. Titel und Umständlichkeiten und hier und da ein bisschen Schmäh, Der Trafikant atmet eine kaiserzeitliche Gemütlichkeit, die dann mit der verrohten Sprache der Nazis kollidiert, wenn das gerade passt. Das hat durchaus Charme, aber einen eher nostalgischen.

Dabei ist Franz eine dieser Figuren, wie man sie in der deutschsprachigen Literatur gerne mal trifft. Naiv und gutherzig und im Notfall sogar ein bisschen pfiffig. Gemischt mit der Sprache, in der ja sogar Anezkas böhmischer Akzent auftaucht, klingt da durchaus der brave Soldat Schwejk durch. Und natürlich bringt der unbedarfte Franz auch hier und da Freud mal auf eine andere Idee. Auch so ein Trope, dass nicht gerade neu ist. Ist das eigentlich schon mal als Forrest-Gump-Trope bezeichnet worden? Ich schweife ab.

Dabei ist Franz natürlich schon sympathisch und natürlich leiden Lesende mit ihm mit. Und freuen sich hier und da, wenn er zum Beispiel dann auch mal eine richtig schöne Nacht mit Anezka verbringt. Aber natürlich ist er auch eifersüchtig und denkt in sehr schmalen Bahnen.

Die eigentlich interessanteren Figuren bleiben leider immer am Rand. Die Mutter zum Beispiel, die moralisch interessante Entscheidungen getroffen hat, um alleinerziehend den Sohn ins Leben zu bringen. Oder der einbeinige Trafikant, der den Nazinachbarn zuerst noch aufrecht zur Sau macht und dann immer kleiner wird, weil die Gewalt immer näher kommt. Oder Anezka, die nebenbei in der Kleinkunst unterwegs ist. Die sind schon spannender als Franz, der sicherlich Coming-of-Age-mäßig noch viel lernen muss, aber ziemlich eindimensional bleibt.

Zu der Behäbigkeit der Erzählung und dem stark nostalgischem Einschlag passt irgendwie ein unkritischer Umgang mit kolonialer Sprache – mit einem völlig unmotivierten Nutzen des N-Wortes – und eine sehr männliche Erzählhaltung. Ja, die Mutter und Anezka und auch Freuds Tochter Anna sind Figuren, die auftauchen und hin und wieder für Franz wichtig sind, aber letztlich lebt Franz in einer sehr männlichen Welt und aktiv werden hier nur Männer.

Das Ende ist übrigens sehr offen. Eigentlich ja schon ein wichtiges literarisches Mittel. Aber es wirkt in diesem Fall schlicht bemüht. Geben wir der Sache noch ein bisschen mehr Geheimnis. Aber hier wäre es viel eher wichtig gewesen, zu zeigen, was Franz noch zu erdulden hatte. Hier fehlt ein bisschen die Wahrheit, der sich Schriftsteller*innen eigentlich verbunden fühlen sollten.

Der Trafikant ist ein gut geschriebener, aber sehr altmodischer Roman, die Auseinandersetzung mit dem übernehmenden Faschismus ist da, aber auch da gibt es nichts Neues zu sagen. Ein Roman von 2012, der genau so auch schon 1960 hätte geschrieben werden können, und da schon altmodisch gewesen wäre. Und die Leidenschaft dafür, in fiktiven Texten historische Persönlichkeiten auftauchen zu lassen, ist mir recht fern. Klar, wenn Freud die Hauptfigur wäre, aber hier ist Freud der Mentor, der leider keine wirklich neue Dimension bringt, sondern eigentlich nur Dinge sagt, die jeder andere Mentor auch sagen könnte – bis auf die schmückende Kleinigkeit, dass Franz irgendwann seine Träume aufschreibt und an die Tür der Trafik klebt. Ja, nett. Traumdeutung und so, haben wir verstanden.

Noch ein Wort zu der Wahl dieses Romans als Schullektüre. So gut ich es finde, dass nicht mehr die Marquis von O. gelesen wird, deren Moral, dass Frau einfach ihren Vergewaltiger heiraten kann, mehr als fragwürdig ist – ich weiß auch, dass ich da verkürzt habe -, so sehr habe ich das Gefühl, dass hier eine Chance verpasst wurde. Ich meine, wenn man einen modernen Roman als Lektüre aussucht, warum dann einen so altmodischen und nostalgischen? Die Schüler*innen können vermutlich mit der ganzen Betulichkeit wenig anfangen, verstehen Anspielungen seltener und müssen erst mal Siegmund Freud googlen. Hätte man da nichts finden können, was eine zeitgemäße Sprache spricht, vielleicht sogar mal von einer Frau geschrieben? Oder war es so wichtig, irgendwas mit Nazis zu finden, was aber trotzdem nicht weh tut? (Immerhin werden hier nicht die Taten von KZ-Wärter*innen relativiert wie beim Vorleser, man muss ja auch mal für die Kleinigkeiten dankbar sein.) Tja, schade …

Rezension zu „Die Götter müssen sterben“ von Nora Bendzko

Nora Bendzko gehört zu ein paar Autor*innen, die sich unter dem Banner der „Progressiven Phantastik“ versammeln, einem Begriff, den Fantasy- und Science Fiction-Autor James L. Sullivan ins Spiel gebracht hat und der zu mehr phantastischer Literatur führen soll, die inklusiv und divers ist, die den alten Klischees neue Ideen entgegensetzt.

Unter diesem Vorzeichen ist „Die Götter müssen sterben“ als Verlagsdebut von Nora Bendzko nun natürlich unter Beobachtung. Ist ihr Roman progressiv? Und auch noch gut? Schauen wir doch mal rein:

Wir tauchen richtig tief in die Sagen- und Mythenwelt der griechischen Antike ein. Die Heldinnen der Geschichte heißen Areto, Clete und Penthesilea und wir schauen den Amazonen bei ihrem Kampf gegen griechische Helden und die Götter selbst zu. Der Kampf um Troja, die erste Geschichte, die im europäischen Kulturraum aufgeschrieben wurde, das Fundament der europäischen Erzählkunst. Das Sujet ist auf jeden Fall groß gewählt.

Und das Genre ist Dark Fantasy und das bedeutet für Nora Bendzko eine große Palette von Magie, von Sex, von blutiger Gewalt – nein, dieser Roman ist nicht subtil. In seiner Fülle erinnert der vollmundige Stil an einen Michael Moorcock – ja, ich suche mir meine Beispiele immer im klassischeren Bereich der Phantastik, ich bin alt und kenne halt nichts anderes – , nur dass die durch Blut watenden Helden nicht Elric heißen, sondern Clete oder Penthesilea. Und es ist eine Menge Blut.

Areto hat einiges hinter sich, als wir sie kennenlernen. Als sie mit einer Hetäre im Bett erwischt wird, wird sie an einen älteren Mann verheiratet und von ihm zu ehelichem Verkehr gezwungen. Als die Amazonen Athen überfallen, um ihre Prinzessin Antiope zu retten, nutzt Areto die Gelegenheit, bringt ihren Mann um und geht mit den Amazonen mit.

Im Schutz von Königin Penthesilea und ihrer größten Jägerin Clete zieht Areto dann ihren Sohn Phileas auf, bis wir sie wiedersehen. Inzwischen tobt der Krieg um Troja und die Amazonen sind gespalten, ob sie sich beteiligen sollen. Penthesilea sagt ja, ihre Schwester Hippolyte ist allerdings dagegen – sehr zum Verdruss des Kriegsgottes Ares, der der Vater der beiden Königinnen ist – nun, eigentlich ist er auch ihr Großvater und überhaupt ihr einziger männlicher Vorfahre überhaupt. Bei Göttern gibt es wohl keine Inzuchtsprobleme.

Clete ist gerade zur größten Jägerin gekürt worden, und Areto ist ihre liebste Liebhaberin. Aber erst als Artemis erscheint und Areto auserwählt, ihr Auge zu tragen, werden die beiden ein festes Paar.

Bald führen Verwicklungen dazu, dass die Amazonen gen Troja ziehen. Und Areto und Clete müssen viel weiter. Sie müssen in die Unterwelt, und sie müssen heil daraus zurückkommen.

Nora Bendzko nimmt die blutrünstigen und magiestrotzenden griechischen Mythen ziemlich wörtlich. Lässt Götter in verschiedenen Formen ganz real den Sterblichen erscheinen, Amazonen brennen sich wirklich in Mädchenjahren die rechte Brust weg und es gibt hinter jedem Baum Satyrn, Nymphen und eine Flut von Halbgöttern. So liest sich „Die Götter müssen sterben“ selbst manchmal wie ein moderner Mythos und weniger wie der gewohnte psychologische Roman – und ja, in manchem Dialog fehlt mir persönlich die psychologische und emotionale Tiefe.

Genau hier ist der Unterschied zu einem ebenfalls in seiner Zeit sehr politischen Roman, der sich ebenfalls um diese Zeit dreht. Marion Zimmer Bradley erzählte 1987 in „Die Feuer von Troja“ die Geschichte von Königstochter Kassandra, die bei den Amazonen das Kämpfen lernt. Auch hier – und vermutlich zum ersten Mal – wurde der trojanische Krieg aus einer weiblichen Perspektive erzählt. Aber während MZB eine realistische moderne Geschichte erzählt, in der es durchaus Magie gibt, aber der Realismus und die innere Physik der Geschichte sehr wichtig sind, feiert Bendzko mit Wucht die Kraft der Mythen. Sie lässt kampfgestählte Amazonen miteinander streiten und prügeln, zeigt sie nicht nur im Kampf, sondern auch im Sex hungrig und sinnlich. Bricht weibliche Rollenklischees auf und zerbröselt sie lächelnd. Und das ohne Figuren zu idealisieren. Da gibt es keine nur guten Charaktere und keine nur bösen – auch wenn ein paar Götter nicht wirklich gut dabei wegkommen. Aber die müssen ja auch sterben.

Ja, hier und da wirkt es so, als ob jede Form der Diversität noch irgendwie mit eingebracht werden muss. Körperliche Behinderungen, nichtbinäre Charaktere – hier „Vielselige“genannt, was auf jeden Fall Klasse hat -, Depression, Missbrauch und sehr vieles mehr, ja, das ist manchmal ein bisschen viel. Aber es ist ein Debüt, es soll natürlich ein großer Wurf sein und es ist so ambitioniert, dass diese Ambition eben auch manchmal aus dem Text herausschaut.

Das gilt auch für die vielen Erzählperspektiven, die sogar die von der Göttin Artemis einschließt. Das kann schon mal verwirren und es braucht ein paar Seiten, so richtig in die Geschichte reinzukommen. Auch ein großer Zeitsprung … – ach, ich bin einfach kein großer Fan von langen Prologen. Andererseits ist es nie eine Qual und es gibt so viel zu entdecken, dass man sich hier und da atemlos umschaut, aber nie gelangweilt.

Bewunderswert, wie Bendzko sich radikal in jeden Aspekt wirft. Kampf, ja klar, aber wenn schon, dann auch mit blutigem Gore und der Hässlichkeit des Krieges, Sex, ja auch, aber dann bitte gleich ziemlich explizit und nie verschämt, Magie und Mythik, jede Menge, und nicht von Regelwerk gebändigt, sondern fast psychedelisch bunt und weltumfassend. So kraftstrotzend, wie ihre Amazonen streiten, schreibt Bendzko, so lebenshungrig und nicht von ihrem Ziel abzubringen. Das ist die Qualität dieses Buches, seine Farbigkeit, die vielen Facetten und die Üppigkeit.

„Die Götter müssen sterben“ ist kein Meisterwerk, aber es ist ein radikales Werk. Eine Kampfansage an die etablierte Phantastik, an vertrocknete Tropes und ewig gleiche Sujets. Wie heißt es in „Amadeus“ von Peter Shaffer, all die alten Götter und Helden klängen so erhaben, „als würden sie Marmor scheißen“. Nora Bendzko schafft es, dieses älteste marmorne Sujet der europäischen Kultur gegen den Strich zu bürsten und mit diverser und feministischer Energie aufzuladen. Wütend wie ihre Amazonen, schreit sie dagegen an, dass so viele Menschen von der Kunst und Literatur vergessen werden, dass diverse Stimmen nicht gehört werden, dass auch in der Literatur – wie so oft in der Gesellschaft – die Macht bei alten weißen Männern liegt. Nicht nur die Götter müssen also sterben – oder sich zumindest schwerverletzt auf den Olymp zurückziehen -, sondern auch die alten weißen Männer der Literatur.