Archiv für den Monat September 2021
Unter der Drachenwand – Eine Rezension
Die Drachenwand, eine stolze Felswand in den Salzburger Alpen gibt einem Roman den Namen, der mit 480 Seiten im Taschenbuch noch kein Hochgebirge ist, aber doch eine Klippe für die Lernenden, die ihn jetzt als Lektüre lesen müssen.
Der Inhalt ist erstaunlich schnell erzählt. Wir haben 1943 und Veit Kolbe kommt schwer verletzt aus einem saarländischen Lazarett zurück nach Hause nach Wien. Vom ersten Tag an war er im Krieg und er hat einiges mitgemacht. Neben körperlichen Schäden hat er auch PTBS und davon nicht zu wenig. Bei den Eltern hält er es nicht lange aus. Erbittet den Onkel, einem Gendarmen, ihm einen Platz am Mondsee zu vermitteln. Und so fährt Kolbe zum Auskurieren unter die Drachenwand.
Dort lernt er ein paar interessante Menschen kennen, sieht ein kleines pubertäres Liebesdrama mit an, geht selbst eine Beziehung zu seiner Nachbarin Margot ein und freundet sich mit einem weiteren Nachbarn an, den man den Brasilianer nennt, weil er lange Zeit dort gelebt hat. Und der Brasilianer hat was gegen Führer und Naziland und beeinflusst damit auch Kolbe.
Na ja, und so richtig viel passiert sonst nicht. Es ist halt Krieg und Bomber fliegen und das Leben geht irgendwie weiter, das Lieben auch und Menschen werden älter. Die Handlungskurve dieses Romans zuckt allenfalls hier und da mal nach oben, hat aber auch viel von einer Nulllinie. Ein Sog ist das eigentlich nicht gerade. Trotzdem vermag Arno Geiger die Lesenden am Ball zu behalten. Und das vor allem, weil er einfach einen Ton findet, der einerseits der Zeit absolut entspricht, und der andererseits vielen Dingen Bedeutung gibt. Und unter allem liegt die Bedrohlichkeit von Krieg und Nazidiktatur. Ein Leben ist nichts wert, im Krieg eh nicht, aber unter Nazis noch viel weniger.
Irgendwie sind alle Anwesenden verloren, dem Tod geweiht und mich hätte es nicht gewundert, wenn im Nachwort erklärt gewesen wäre, wie alle, mit denen wir je mitgefiebert hätten, vor dem baldigen Ende des Krieges noch umgekommen seien.
Sicherlich hilft die Perspektive dem Ganzen. Veit Kolbe ist zum größten Teil der Ich-Erzähler, der seine Erfahrungen in langen Tagebucheinträgen aufschreibt. Dazwischen gibt es Briefe, teilweise von Menschen, deren Schicksale mit Kolbe verbunden sind, in einem Fall aber auch von einem jüdischen Wiener, der Veit eigentlich unbekannt ist. Diese Briefe sind gewöhnungsbedürftig, aber ohne Frage meisterlich geschrieben. Margots Mutter schreibt und bei ihr ist alles zwischen einem schwieriger werdenden Alltag und den elementaren Erkenntnissen des Krieges enthalten. Kurt Riedler, Verehrer eines Mädchens, das Veit kennenlernt und das dann verschwindet, schreibt einen wunderbar naiven und doch gebildeten Stil eines jungen Gymnasiasten dieser Zeit, voller Schwärmerei und ohne Zukunft. Der dritte Briefeschreiber ist Oskar Meyer, ein jüdischer Zahntechniker, der zu spät flieht und irgendwann seine Frau und den jüngeren Sohn verliert und nicht weiß wo sie sind – dabei haben sie schon lange in Auschwitz ihre Mörder getroffen. Sein Schicksal – bedrückend und erschreckend – ist ein Fremdkörper. Zu sehr klingt es so, als ob dringend auch ein jüdisches Schicksal mit in einem solchen Buch vorkommen, egal, wie wenig Verbindung es gibt. Zu sehr wirkt es wie ein Alibi, ein Token.
Motive, die stark an Remarque und seinen Klassiker „Im Westen nichts Neues“ erinnern, ziehen sich durch den Geiger-Roman. Die Kriegsbegeisterung der Väter, das Unverständnis der Heimatfront, das Gefühl, das junge Leben im Krieg auch dann zu verlieren, wenn man überlebt. Arno Geiger muss den Krieg nicht ausdrücklich zu zeigen, um seine Schrecken zu schildern. Sein Erzähler Kolbe lässt immer wieder Brocken von Dingen fallen, an die er sich lieber nicht erinnern würde. Brocken nicht nur von Gefahren, sondern auch von Untaten, deren Zeuge er wurde. Von Gerüchten und Geschichten, die er gehört hat. Von Massenerschießungen und ähnlichen Untaten.
Das funktioniert so weit ganz gut, und ja, Geiger schafft es, seine Briefeschreiber und seinen Ich-Erzähler sehr authentisch nach dieser Zeit klingen zu lassen.
Aber letztlich gibt es auch Schwierigkeiten. Kolbe könnte sich ruhig genauer erinnern. Er war vier Jahre an der Ostfront, er war damit nicht auf Gerüchte angewiesen. Und auch sonst scheint niemand zu wissen oder darüber zu reden, was mit den Juden passiert. Und damit bedient Geiger ein Narrativ, das schlicht falsch ist. Das war durchaus weitgehend bekannt, man wollte es nur nicht wissen, also nach dem Krieg. Und klar, alle sympathischen Charaktere sind zumindest keine überzeugten Nazis. Nur die Arschlöcher, ja, die sind alle überzeugte Nazis. Und das ist einfach eine Verzerrung, das ist ein bisschen zu viel Märchen an einer Stelle, an der es eigentlich kein Märchen geben sollte.
Ich habe das Buch als Hörbuch rezipiert und kann das über weite Teile wirklich empfehlen. Die Sprecher*innen sind ausgezeichnet. Jeder findet seinen eigenen Sound, sein Tempo, und auch wenn die Briefe zuerst seltsam wirken und ihren Charme recht langsam entwickeln, so sind sie doch ein Mittel, der Geschichte viel mehr Tiefe zu geben. Und da haben die Sprechenden großen Anteil.
Sprachlich und atmosphärisch ein wunderbares Buch, in Sachen Spannungsbogen eher schwach und in manchen Lösungen sehr unbefriedigend. Und Geiger macht nicht klar, wie verbreitet NS-Ideologie und das Wissen über die Shoah war, und bedient damit das Narrativ von unwissender einfacher Bevölkerung. Also insgesamt viel Ambivalenz.
Exkurs:
„Unter der Drachenwand“ ist in NRW Thema für den Deutsch-Leistungskurs ab dem Abitur 2023. Da möchte ich auch noch was zu sagen:
Erstens, ja, man hätte ein Buch auswählen können, das schlicht eine bessere Geschichte erzählt, oder vielleicht besser, dass überhaupt darauf aus ist, eine Geschichte zu erzählen und nicht nur Ereignisse. Es hat seine Qualität, keine Frage, aber auch so deutliche Schwächen, dass ich mich da schon wundere.
Zweitens, der Schwierigkeitsgrad ist völlig okay, ich glaube, die meisten Lernenden aus den LKs sollten hier keine Probleme mit haben.
Drittens, der Zauber des Buches ist, dass es eine Illusion des Authentischen entwickelt, die wirklich ungewöhnlich ist. Junge Menschen, die nicht mehr von ihren Vorfahren hören, wie Krieg denn so ist, kriegen es hier erklärt. Was prinzipiell eine gute Sache ist.
Viertens, wiederhole ich eine Kritik, die ich schon am Roman hatte, den die Grundkurse lesen müssen – „Der Trafikant“ von Robert Seethaler -: Man entscheidet sich endlich, moderne Literatur zu lesen, und sucht sich dann Bücher aus, die klingen, als ob sie vor mindestens siebzig Jahren geschrieben worden wären – wobei der Trafikant zwar in den Dreißigern spielt aber stark nach noch früherem 20. Jahrhundert klingt. Warum keine moderne Literatur, die auch modern ist?
Dune – so etwas wie eine Rezension
Ja, kaum ein Film wurde so heftig erwartet, in kaum einen film wurden so viele Hoffnungen gesteckt und jetzt ist es die große Frage, hält Dune das, was er verspricht?
Disclaimer: Ich habe den ersten Wüstenplanet-Roman mehrfach gelesen, bin aber nie weiter gekommen – was aber auch kein Problem sein sollte, denn der Film deckt nur etwa ein Drittel des ersten Romans ab. Und das bei 150 Minuten!
Schauen wir erst mal, was das eigentich für ein Universum ist, in dem die Geschichte spielt. Das Universum ist in eine neofeudale Herrschaftsform gefallen, intelligenten Maschinen wird so sehr misstraut, dass es quasi keine mehr gibt. Dafür gibt es Mentaten, die dafür ausgebildet sind, menschliche Computer zu sein, auch mit einem Hang zu der Logik von Computern. Außerdem gibt es die Gilde der Navigatoren, die die einzigen menschlichen Wesen sind, denen es möglich ist, Raumschiffe durch eine Art Hyperraum zu navigieren – dafür haben sie ihre Menschlichkeit wohl einigermaßen abgelegt, aber das wird hier im Film nicht thematisiert. Auch die Fähigkeiten von Mentaten wird nur angedeutet. Der Film bemüht sich sichtlich, für Nichtkenner des Buches verständlich zu sein und nichts zu überfrachten.
Es gibt neben den großen Familien noch einen Imperator, der über allen thront, aber kein absolutistischer Herrscher ist. Es gibt ein immer gefährdetes Machtgleichgewicht zwischen dem Imperator und den großen Familien.
Und dazu gibt es die Bene Gesserit, eine Schwesternschaft, die über ein paar quasi magische Fähigkeiten verfügen und durch ein komplexes Zuchtsystem unter den großen Familien auf einen übermenschlichen Messias hinarbeiten, den Kwisatz Haderach. Und vielleicht erreichen sie das ja sogar. *hüstel*
Das alles ist die Basis für diesen Film und wer das jetzt gelesen hat, sollte mit dem Rest im Film eigentlich ganz gut klar kommen. Eine Inhaltsangabe würde ich eigentlich gerne weglassen, macht ja jeder, aber machen wir es kurz:
Herzog Leto Atreides übernimmt den Wüstenplaneten Arrakis, weil der Imperator das so befiehlt. Er hat vor, dem Planeten Frieden zu bringen, befürchtet gleichzeitig eine Falle. Paul, der Sohn von Leto und dessen Bene-Gesserit-Konkubine Jessica, hat Visionen und träumt schon in der Heimat von Arrakis und den dortigen Einheimischen, den Fremen. Vor allem von einer jungen Frau dort. Bald stellt sich heraus, dass Arrakis wirklich eine Falle ist.
Regisseur Villeneuve bleibt in sienem Film erstaunlich eng am Buch, schafft es aber trotzdem Dinge, die in der Vorlage heute eher peinlich wirken, zumindest zu entschärfen. Denn natürlich ist die über fünfzig Jahre alte Vorlage ein Abbild des damaligen Rollenbildes. Frank Herbert, der Autor von Dune, ging davon aus, dass eine Gesellschaft im Jahr Zehntausendnochwas natürlich immer noch vollständig von Männern beherrscht wird und dass Frauen es halt durch clevere Arbeit in der Schwesternschaft der Bene Gesserit quasi durch den Seiteneingang zu einer gewissen Macht geschafft haben – die Wahrsagerin des Kaisers und ehemalige Lehrerin von Lady Jessica ist eine Macht, vor der auch der Feind der Atreides, der fiese Baron Harkonnen, ernsthaft Angst hat und mit der er sich nicht anlegen will – aber das war es dann halt auch mit der Emanzipation.
Und Villeneuve ändert da fast nichts dran, er lässt nur eine wichtige Nebenrolle, den planetaren Biologen, zu einer planetaren Biologin werden – und schon wissen wir, ach, so schlimm ist das ja alles nicht, es gibt immerhin eine wichtige Forscherin und Beamtin. Eine kleine aber effektvolle Änderung.
Trotzdem hat der Film etwas übermäßig viel Testosteron, es ist aber noch erträglich, so weit ich das beurteilen kann.
Ein weiters Erbe des Buches ist ein nicht immer einfacher Umgang mit muslimischer Kultur, also jetzt nicht in Form von AfD-nahme Islamhass, sondern eher als cultural appropriation. Das kann ich aber nicht wirklich bewerten und das sollen bitte Menschen tun, die sich damit auskennen.
Und ein Hang zu Esoterik. Den gibt es im Buch auch – Esoterik ist in gewissen Zeiten eine häufige Zugabe in der Phantastik gewesen und es ist natürlich auch nicht immer einfach, wenn man Wahrträume, eine Art psychischer Magie und ähnliche Bestandteile einbauen will. Der Film erbt die esoterischen Momente der Träume des jungen Paul Atreides, in der es dann in nebulöse Bilder geht, die für mich an die Grenzen dessen gehen, was ich mir gern anschaue. Aber ich habe vor einem Jahr das Hörbuch zum Roman gehört und hatte daher schlimmere Befürchtungen für den Film. Für Hardcore-Fans des Buches mag das sogar ein wirklich positives Element sein.
Ein letztes eher unangenehmes Erbe des Buches ist, dass Baron Harkonnen, der fiese Antagonist einen Teil seiner Fiesigkeit daher bekommt, dass er fett ist. Also richtig heftig fett. So sehr, dass er sich Antigravaggregate in den Körper eingebaut hat. Was natürlich so optisch interessant ist, dass keine Regisseur*in der Welt sich das hätte entgehen lassen können. Er muss deswegen fett bleiben. Ich fände aber schön, wenn das Trope des fetten Antagonisten irgendwann aussterben würde.
Wie erzählt der Film sonst seine Geschichte? Ziemlich gut. Er nimmt sich viel Zeit, zerschneidet seine Actionszenen nicht zu Stroboskopbildern, beherrscht die Totale und das Close-Up und … ach, überhaupt, die Optik ist tricktechnisch ohne Fehl, ist kompositorisch wunderschön und beeindruckend. Dieser Film ist so absolut Kino, wie ich das selten gesehen habe. Wirkt so echt und tief wie einst der Herr der Ringe.
Aber – kleiner Dämpfer – die großen Häuser mögen offensichtlich keine Gemütlichkeit, keine Wohnlichkeit, das ist schon alles viel zu groß und pompös und kalt. Und das nicht nur bei Harkonnens, aber da natürlich um so mehr. Und keine Frage, Villeneuve hat seinen Triumph des Willens schon gesehen und ein bisschen Riefenstahl steckt in vielen Bildern.
Der zweite Punkt, warum man diesen Film im Kino sehen sollte? Weil man ihn im Kino hören und spüren sollte. Selten habe ich erlebt, dass ein Film so häufig in den Magen hinein grollt und das trotzdem nie unangenehm oder aufgesetzt wirkt. Das Sounddesign und die ungewohnten musikalischen Klänge von Hans Zimmer sind manchmal schwer zu ertragen, aber immer passend und unterstützen den Film massiv.
Villeneuve wird nicht selten mit seinem Kollegen Nolan verglichen, mit dem er die optischen Imposanz absolut teilt. Aber er hat einen großen Vorteil: er interessiert sich deutlich mehr für seine Charaktere. Der emotionale Zugang zu seiner Version von Dune ist viel weniger durch Verkopftheit verstellt, als meinetwegen bei Inception oder Interstellar.
Und natürlich helfen ihm seine sehr starken Darsteller*innen dabei ganz großartig. Da fällt niemand raus. Da sitzt im Spiel einfach alles, niemand muss dabei wirklich außergewöhnlich sein, es ist ja nun nicht unbedingt Shakespeare, aber da ist ein Ensemble, in dem alle ihr Handwerk beherrschen.
Von Villeneuve wird das Zitat kolportiert, Dune sei Star Wars für Erwachsene. Ich würde kontern: Dune ist Game of Thrones im Weltraum – und ich bin mir recht sicher, dass GRR Martin die Dune-Bücher kannte, als er mit Game of Thrones anfing. Nein, mit Star Wars hat Dune keine Verbindung, außer dass beide wohl zu dem weiten Feld der Space Operas gehören. Aber während Star Wars humorvoll und märchenhaft ist, ist Dune Grimdark, eine Verbindung von Realismus, Düsterkeit und Phantastik.
Dune ist ein Film, dem ich zutraue, stilbildend zu sein. Dem ich durchaus eine Menge Erfolg wünsche, weil ich die nächsten Teile sehen will. Ist er ein Meisterwerk? Vorsichtiges ja.