Archiv für den Monat April 2022

Gedanken zu „Das Orakel in der Fremde“ von James A. Sullivan

Einen ähnlichen Beitrag habe ich schon über den ersten Band diese Dilogie geschreiben, über „Das Erbe der Elfenmagierin“. Das hier ist keine Rezension, ich habe nur ein paar Gedanken.

Also, wenn man den minimalen Namensstress überwunden hat – es sind zu viele ähnlich klingende Namen und ich war immer wieder davon überrascht, dass Leute dann doch eine gewisse Grundwichtigkeit überschritten, obwohl ich sie schon lange unter „Wer war das noch mal?“ abgespeichert hatte – und sich damit anfreundet, dass ein paar Actionmomente schon ein Gefühl gaben, dass man aus dem PnP kennt: Oh, die Spielleiterin hat eine 19 geworfen und wir bekommen einen Überfall als Zufallsbegegnung. Ja, dann – ich weiß, dass meine Satzstruktur sich verabschiedet hat – ist dieser zweite Band der Chroniken von Beskadur ein ambitionierter Roman, der so locker mit Klischees herumspielt und sie auf den Kopf stellt, dass es eine Freude ist. Der aber auch schon mal vor lauter Gedanken vergisst, dass er eigentlich eine Geschichte erzählen will.

Aber nicht die Geschichte bleibt, es sind Momente. Momente, in denen der Zukunft der Weg bereitet wird, Momente, in denen Menschen, ähm, Wesen eine Familie bilden, bei der die Blutsverwandtschaft wirklich nicht wichtig ist, Momente, in denen die Gemeinschaft und ihre Solidarität einfach wichtiger ist, als der Heldenmut der einzelnen. Momente voller Innigkeit und Großzügigkeit.

Manchmal hat Beskadur ein bisschen zu viel Sonnenschein. Hier und da ist ja auch Tragik was Schönes, nicht? Die Wesen der Beskadur-Romane sind hier und da ein bisschen sehr vernünftig und sehen freundlicherweise meistens ein, dass es allen besser geht, wenn man zusammenarbeitet. Ich möchte das ja auch gerne glauben. Hopepunk? Ja! Ein bisschen dick aufgetragen? Bisschen …

James A. Sullivan stellt Fragen. Wie funktioniert Familie, wenn die Liebe sogar den Tod überlebt? Wie funktioniert das Zusammenleben, wenn Hautfarben wirklich nur Beschreibungen sind? Wie weit muss das Vergeben gehen? Wie funktioniert Liebe, wenn sie nicht Besitz ist? Die Fragen und ihre Antworten machen den Roman lesenswert. Auch, wenn man weder Elfen noch Luftschiffe mag.

„Das Orakel in der Fremde“ ist selten verwirrend und neu in seiner Erzählstruktur, aber die Art, wie über Beziehung und Familie gedacht ist, die Art wie Klischees und Tropes teils genutzt, teils auf den Kopf gestellt sind, macht den Roman avantgardistisch. Eine Menge Dinge, die viel zu selten so gedacht werden. Die nachwirken. Länger.

Literatur der Veränderung?


Irgendwann habe ich schon mal über das Thema geschrieben oder in einem Podcast gesprochen, aber manchmal muss man bei anderen schauen, um Dinge aussprechbar zu machen. In diesem Video vom britischen Youtuber Shaun demontiert dieser sehr genüsslich, was J.K. Rowling warum geschrieben hat und wie wenig Mühe sie sich oft gegeben hat. Nun ja. Für Potterheads kann das eine sehr schmerzhafte Erfahrung sein. Aber darum geht es mir nicht und ich werde hier auch nicht zusammenfassen, was Shaun sagt. Aber es gibt eine wichtige Beobachtung, die er am Ende des Videos bringt:
Unsere Literatur, unsere Filme, quasi alle Narrative basieren darauf, dass sie von reichen Menschen gemacht oder ermöglicht werden. Das führt dazu, dass sehr viele Tropes dazu führen, dass am Ende der Geschichte der Status Quo wieder etabliert wird.
Bei Harry Potter ist das besonders stark. Die völlig nutzlosen, separierenden Häuser in Hogwarts bleiben was sie waren, die Momente, in denen nach dem finalen Kampf alle an einem großen Tisch saßen, sind vergessen. Dazu haben auch noch alle ihre Jugendliebe geheiratet und führen superlangweilige Leben mitten im Establishment, brrrrrrr.
Aber ganz ähnlich sind auch andere Geschichten welche, die in den Status Quo zurückführen. Alice kehrt aus dem Wunderland zurück, Frodo und Samweis aus Mordor und so weiter und so fort. Und wenn sie nicht gestorben sind, hat sich immer noch nichts geändert.
Wir müssen dafür nicht in die Phantastik schauen. Robin Williams – ach, was vermiss ich ihn – hat gleich mehrfach Rollen gespielt, in denen etwas ähnliches passierte. Oh Captain, mein Captain: Im Club der toten Dichter verändert Williams alias Keating die Welt eines Jungeninternats. Er schafft fast die Revolution, um dann zu scheitern. Gooooood Morning Vietnam! Kronauer macht richtig Party, verbessert die Welt ein bisschen – aber nur so lange, bis er auch aufs Maul bekommt und genauso bedröppelt nach Hause geht, wie Keating vor ihm. Der Status Quo darf sich einfach nicht ändern! Das ist wichtiger, als die Frage, was gut für die Jungen im Internat oder die Soldaten in Vietnam ist.
Irgendwie ist es immer so. Wenn jemand drauf und dran ist, die Welt zum Besseren zu ändern, dann wird das ein Stück weit zugelassen, es werden Erfolge gefeiert, nur um dann das Positive wieder einzustampfen. Weil die Welt so ist, wie sie nun mal ist, und man daran auch gar nichts ändern kann. Oder?
Beim Storystructure-Guru Blake „Katzenretter“ Snyder gibt es dafür eine spezielle Kategorie, ein Storygenre, die Rites of Passage / den Übergangsritus. Ein Punkt im Leben wird erreicht, an dem etwas überwunden werden muss – meistens das Erwachsenwerden, gerne aber auch die Trauer um einen Menschen oder um eine Beziehung. Und das Ziel dieser Geschichte ist immer, dass die Protas akzeptieren, dass sie die Welt annehmen und sich nicht wehren. Und dadurch natürlich auch nichts verändern.
Deswegen finden wir in Kinderbüchern auch besonders oft die Geschichten, die am Ende zeigen, dass es doch so hilfreich ist, zum Status Quo zurückzukehren. Erwachsen werden heißt doch, sich in das Leben des Erwachsenen einzuleben, sich anzupassen und brav daran mitzuarbeiten, dass man die Welt, wie sie jetzt ist, so gerade noch erträgt, oder?
Bastian Balthasar Bux erschafft ganze Welten, aber toll ist doch, dass er am Ende zu Papa zurückkehrt und wieder ein braver Sohn ist, oder? Und wenn wir gerade bei Michael Ende sind: Wie rückwärtsgewandt ist eigentlich Momo? Durch und durch technikfeindlich und wie schön, dass Beppo Straßenkehrer Strich für Strich die Straßen sauber macht und davon kaum leben kann. Ich mein, klar, niemand mag die Grauen Herren, aber deswegen ist nicht alles, was ein bisschen Zeit einspart, vom Teufel. Michael Ende würde das Internet so sehr hassen.
Mir fällt unter den Kinderbüchern kaum eines ein, dass den Status Quo auch nur herausfordert. Selbst Pippi Langstrumpf macht das nicht sehr konsequent.

In meinem Lieblingskinderbuch macht Astrid Lindgren es anders. Bei Ronja Räubertochter haben wir die ganze Verklärung der Kindheit und der Freundschaft, aber auch die kommende Veränderung, schließlich wollen Ronja und Birk ja nicht mehr Räuberhauptmann werden, weil sie nicht wollen, dass Menschen weinen und wütend werden – was eigentlich auch mit dem kategorischen Imperativ zusammen passt. Ronja und Birk sind also auf dem Weg in eine zivilisiertere Zukunft. Das nimmt der Räuberburg vielleicht ein wenig von ihrem anarchistischen Charme, aber wie schön das eigentlich ist. Wir wollen in Zukunft alles etwas freundlicher gestalten, wollen zivilisiert sein und Verantwortung übernehmen – stellt euch mal vor, das wäre üblich?

Ach ja, genau, da bin ich da angelangt, wo ich eigentlich hin wollte. Wie wäre das? Literatur, in der die, die für mehr Menschlichkeit und Solidarität kämpfen, gewinnen? In der Menschen ihre Nische finden, ihr kleines Glück. In der Menschen nicht akzeptieren müssen, dass die Welt nun mal so ist, sondern in der die Menschen die Welt verändern. Das muss ja auch nicht einfach sein. Sind ja genug Geschichten drin.

Zauberhafte Wesen, die zu frei für unsere Gesellschaft sind, müssen auch nicht zu tragischen Figuren werden. Wie wäre es, wenn sie einfach glücklich werden? Ja, auch in Beziehungen, die anders sind, als wir das gewohnt sind. Genau, wie wäre das? Menschen, die zusammen eine Familie bilden, egal, ob es Blutsverwandtschaft gibt und egal, wer mit dem ins Bett geht? Und das wird nicht problematisiert? Wow? Mindblowing?

Ja, ich mag meine tragischen Enden, ja, ich mag auch mal die etwas härtere Gangart. Aber es gibt so viele toxische Tropes, die alle darauf abzielen, dass sich letztlich nichts verändert und der Status Quo geschützt wird. Wir wissen heute, dass „Kill your gays“ so ein Trope ist. Oder der Horrorfilmklassiker: „Menschen, die Sex haben, werden als erste vom Monster gekillt!“ Aber „Die Welt ist halt so und wir können da gar nichts dran ändern“, dieses Trope geht mir noch viel mehr auf den Keks.

Noch ein kleiner Einschub: Der einsame Kommissar, der dem später überführten Mörder eine reinhaut, weil er endlich eine Aussage haben will, ist irgendwie cool, aber auch toxisch. Der Typ muss also selbst zum Verbrecher werden, damit ein Verbrecher überführt wird? Was ist denn da die Moral hinter? Könnten wir auch mit den Weltenrettern aufhören? Die auf eigene Faust die schrecklichen Gefahren überwinden? Können wir die nicht eifnach mal mit Solidarität abwehren? Und nein, es ist eine Scheißidee, auf die Macht zu vertrauen, Luke! Es ist nicht sinnvoll, nicht nachzudenken und auf sein Gefühl zu vertrauen, es ist auch nicht sinnvoll, auf irgendwelche Magie oder imaginäre Helfer zu vertrauen. Rationalität und Solidarität sind weit vorzuziehen.

Okay, ich kriege das nicht geschlossener hin. Es tut mir leid. Vielleicht in einem späteren Text. Ich hätte gerne eine Literatur der positiven Veränderung. Ich möchte, dass wir die Bilder erzeugen, die uns als Utopien antreiben können, die Welt ein bisschen besser zu machen. Ein klügeres und eloquenteres Fazit habe ich leider nicht.