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Niemand wird in der Schule besser durch kein Theater
Ich bin einigermaßen frustriert. Ich inszeniere gerade Woyzeck, eine semiprofessionelle Produktion, und weil ich eigentlich ziemlich begeistert bin, was für Jugendliche ich gerade in der entsprechenden Gruppe habe, habe ich einige junge Menschen angefragt, ob sie nicht kleine Rollen übernehmen können. Weil es zehn Vorstellungen an vier Wochenenden sind, und weil ich weiß, dass alle in vielen Terminen gebunden sind, habe ich diese Rollen noch mal geteilt, lasse jeweils zwei die gleiche Rolle lernen, so kommt man dann einzeln nur auf fünf Aufführungen an zwei Wochenenden, die dann im Mai und Juni verteilt sind.
Nun haben mir inzwischen schon drei Jugendliche, beziehungsweise ihre Eltern abgesagt, eine frühzeitig, die anderen beiden in den letzten Tage, eine Woche bevor es probentechnisch spannend wird, und natürlich so kurzfristig, dass es ernsthaft schwierig wird, noch Ersatz zu finden. Wie bei vielen, kenne ich die Eltern alle auch persönlich, komme mit allen auch gut aus. Und so ist es natürlich umso frustrierender, wenn diese doch so netten und aufgeschlossenen Eltern ihren Sprösslingen die Teilnahme untersagen. Die Gründe: „Es wird zu viel! Zu viele Termine, die Schule leidet.“
Ich frag mich eigentlich immer, wenn Leute mit dem Theater aufhören und mir sagen, es ist zu viel, ich krieg das mit der Schule nicht mehr hin, was da falsch läuft. Es hat sich natürlich seit der Einführung von G8 an unseren Gymnasien stark verschärft. Und ich kann auch ein wenig verstehen, dass das ein Problem ist – das Gymnasium ist auf funktionieren gedrillt. Interessanterweise sagen Lehrer, Schüler und Eltern übereinstimmend, dass die Situation mit G8 nahezu unerträglich geworden ist, niemand nutzt dieses Wissen – es gibt Schulen, die einem das Abitur ermöglichen, und auch die Zeit, seinen Hobbies nachzugehen. Wie kommt man denn da auf die Idee, dass es das Gymnasium sein muss?
Jetzt mal ernsthaft. Wenn es irgendetwas bringen würde, dass die Jugendlichen eine solche Produktion nicht machen, ich hätte deutlich mehr Verständnis. Sie holen sich in einer solchen Produktion nicht nur neues Selbstvertrauen, spielen mit ein paar der besten Amateure und Semiprofis zusammen, die ich kenne, und die unsere Arbeit hervorgebracht hat. Werden auf eine Art mit Büchner konfrontiert, die kein Deutschleistungskurs bieten kann. Sie reifen auch als Persönlichkeiten, haben Spaß und spüren das Glück des Applauses – aber sie sind besser in der Schule, wenn sie das nicht machen? Wie sagt eine Freundin gerne: Wollt ihr mich flachsen?
Und selbst wenn es stimmte, wenn kurzfristig hier und da noch eine Note verbessert werden kann – sie werden merken, wie ihre Kollegen davon profitieren, sie werden spüren, was ihnen verloren geht. Es ist wirklich kaum zu verstehen. Wäre ich in der Situation gewesen, als ich 13 oder 14 war, ich hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um dabei zu sein. Weil die Gelegenheit einfach faszinierend gut ist, weil es nicht die Produktion mit der zugegeben guten Gruppe ist, sondern mit guten Erwachsenen, mit Leuten, von denen man unglaublich viel lernen kann – solche Möglichkeiten gibt es alle zwei bis drei Jahre mal. Für mich ist es jetzt die Frage, wie ich damit umgehe, ob ich in Zukunft solche Gelegenheit überhaupt noch ermögliche, ob ich mir die Blöße gebe, oder nicht einfach auf Sicherheit gehe, die Leute aus den jüngeren Gruppen einfach im eigenen Saft schmoren lasse – ich muss das ja nicht tun, es ist ja nur Zusatz. Wahrscheinlich ja, wahrscheinlich laufe ich auch in Zukunft wieder ins offene Messer. Wahrscheinlich werde ich in ein paar Monaten oder einem Jahr wieder hier sitzen und meinen Frust herunter bloggen. Immer dann, wenn die hochfliegenden Pläne durch das Denken an das kleine Heute gegen die eine oder andere Wand gehauen werden.
Rhythm is it / Tanzträume
Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich berichtet, mit wie viel neuer Kraft ich aus Neuss von meinen Workshops zurück gekommen war. Interessanterweise hält das gute Gefühl eigentlich immer noch an, was ich so nicht unbedingt erwartet hatte, unter anderem, weil ich auf interessante Dinge gestoßen wurde, die für mich völlig neu sind. Und das sind unter anderem die beiden Filme, die im Titel dieses Blogeintrages stehen.
Wenn mir jemand sagt, dass ein Film wichtig ist und mich angeht, dann kann es sein, und in diesem Fall war es so, dass ich nicht nur bei Amazon schaue, ob ich den Film bekommen kann, nein, ich sehe, aha, von „Rhythm is it“ gibt es eine 3-DVD-Variante, bei der man auch das gesamte Stück sehen kann – na, was soll ich da mit dem normalen Film?
Zum Film: Dirigent Simon Rattle und Choreograph Royston Maldoom bringen die Berliner Symphoniker mit über zweihundert Kindern und Jugendlichen zusammen, machen Musik – Strawinskys „Sacre du Printemps“ – und tanzen, dass es einem die Schuhe auszieht. Nur, dass das klar ist, ich bin kein Tanzfan, ich gehe zwar nächsten Sonntag zum ersten Mal fast freiwillig in eine Ballettaufführung, aber wie gesagt, es ist das erste Mal, und es ist auch nur halb freiwillig, weil ich ein paar Mitwirkende kenne und sehr gespannt bin. Ich habe lang genug auf Amateurniveau Musical betrieben, dass ich in der Lage bin, einfache Choreographien zu tanzen, auch wenn es elefantös aussieht, aber eine wirklich große Liebe zum Tanz habe ich nie empfunden. Aber wenn man sieht, was in diesem Film auf der Bühne so abgeht, dann ist das schon sehr tief berührend, sehr anregend und kraftvoll – aber noch spannender finde ich diesen Typ, diesen Royston Maldoom, wirklich ein Typ. Etwas knorrig, sehr präzise, ein General, manchmal auch ein Feldwebel, aber vor allem absolut ehrlich. Ein beeindruckender Typ, eine charismatische Erscheinung auf seine Art.
Auf jeden Fall so beeindruckend, dass ich inzwischen nicht nur seine Autobiografie („Tanz um dein Leben“) besitze, sondern sie auch gelesen habe – was er dort sagt, und was er im Audiokommentar quasi hinzufügt, davon kann man unglaublich viel unterschreiben – und zwar als Künstler, der mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, dass es bei ihm Tanz ist, und das ich Theater mache, ist da doch nur ein marginaler Unterschied. Es geht um solche Sachen, wie: Fordern, immer wieder fast überfordern, dass der Ehrgeiz erwacht, dass etwas in den Tänzern/Darstellern passiert. Ehrlich sein, keine pädagogischen Lügen – klar sagen können, dass etwas Mist ist, wenn es Mist ist, in Watte gepackte Kinder leisten nichts. Sich für die Menschen interessieren, sie ernst nehmen, ihnen zuhören. Ich könnte hier noch eine halbe Maschinenseite weiter machen. Ein Buch, das ich sicherlich mehr als einmal lesen werde. Es tut mir einfach gut.
Und dann kam gestern „Tanzträume“ an – Jugendliche tanzen „KONTAKTHOF“ von Pina Bausch, noch eine Dokumentation. Mit dem Film bin ich gar nicht so zufrieden, weil er eigentlich erst einsetzt, als die Probleme alle schon bereinigt sind. Es sind schon alle begeistert, die Jugendlichen gehen für ihr Alter unglaublich entspannt miteinander um. Am Anfang der Proben muss das relativ heftig geknallt haben, aber das fehlt im Film. Und, wie soll ich es sagen, die Arbeit von Jo Ann Endicott ist natürlich auch großartig, Pina Bauschs ätherische Gegenwart bei wenigen Proben erstaunlich – aber hier ist es vor allem das Produkt, das mich umhaut. Ja, ich gebe es noch mal zu, ich versteh nicht viel vom Tanz – aber das ist einfach großartig, das ist wirklich Tanztheater, da gibt es nichts, was keine Aussage hat, das überrascht, das überzeugt – wie schade, dass es von Pina Bausch kaum etwas auf DVD gibt … ich muss mal nach Wuppertal, wo ihr Erbe ja scheinbar noch für die nächsten fünfzig Jahre gespielt werden wird. Es überrascht mich natürlich nicht, dass diese Art von Tanztheater auch mit Jugendlichen möglich ist – an manchen Stellen wirkt es wirklich so, als sei diese Art von Theater gar für Jugendliche gemacht. Ich glaube, dass man mit Jugendlichen so ziemlich alles an Theater machen kann, was sie in irgendeiner Weise angeht – beim Kontakthof geht es um Gefühle, um den Kontakt zwischen den Geschlechtern – das ist ja eh das erste Thema für Jugendliche, wer wäre da besser geeignet – auch wenn ich mir die „Senioreninszenierung“ (die machen das auch mit älteren Herrschaften über 65 Jahren) genauso gerne anschauen würde.
Was will ich damit sagen: Boah, ist das inspirierend! Danke für die Tipps, danke für die Filme, danke!
Über Vorschläge …
Juhu, mal wieder ein Theaterblog, wird wahrscheinlich nicht der einzige dieser Ferien bleiben, bin momentan nicht in der Nähe einer Bühne und so sehr in Gedanken auf der einen oder anderen solchen, dass ich manchmal nicht richtig lebenstüchtig wirke … also alles wie immer …
In den letzten Monaten tauchte in diversen Gruppen, mit denen ich zu tun habe, das Problem auf, dass die Mitglieder dieser Gruppen sich unzufrieden zeigten, und sie hatten alle etwas gemeinsam, es ging um Stückauswahl. Nun bin ich ja jemand, der ein solches Thema immer etwas umfassender durchdenken will, und meine Erfahrungen habe ich in den letzten Jahren auch zu Genüge gemacht.
Mathematisch, wie ich nun mal denke, muss ich erst mal die Voraussetzungen klar machen. Ich beziehe mich auf Amateur- und Jugendtheater, auf Gruppen, die aus Neigung und Liebe ins Theater gestolpert sind, dort Musical und Sprechtheater betreiben. Dazu kommt die Tatsache, dass sich die Leiter professionell um ihre Aufgabe kümmern, also für ihre Arbeit auch bezahlt werden, allerdings üblicherweise so, dass eigentlich keine Produktionen drin sind, da die zusätzlichen Arbeiten, die zu einer Produktion gehören, so umfangreich sind, dass Stundenlöhne sich dem berechnen entziehen, oder – so man sie doch berechnet – schwere Sinnfragen stellen. Wir sind also im Bereich von ambitioniertem Amateurtheater.
Das professionelle Theater kennt die nun folgenden Probleme nicht, da sind die Darsteller angestellt und haben gefälligst zu tun, was die Intendanz entscheidet. Im Amateurbereich kostet das Theater die Darsteller Geld, Theater ist ihr Hobby – im Vergleich mit Tennis ein preiswertes, aber ein Hobby für das man Geld ausgeben muss. Mit diesem Vorwissen ist es nicht so sehr überraschend, dass die Darsteller manchmal meinen, sie hätten geradezu die Pflicht, sich in die Stückauswahl einzumischen. Beim Kinder- und Jugendtheater kommen hier auch noch die Eltern ins Boot, die das Theater ihrer Kinder am liebsten harmlos und niedlich hätten – ich verallgemeiner, es gibt extrem aufgeschlossene Eltern, die wirklich ein großer Gewinn sind, es gibt auch jede Menge Darsteller, die ihren künstlerischen Leitungen einfach nur vertrauen, die jeden Blödsinn mitmachen und am meisten Spaß dabei haben, auch mal was sehr Verrücktes und sogar Provokantes zu machen. Aber schon klar, dass man Wünsche hat, das ist doch normal. Bei den Leitenden kommen diese Wünsche oft nicht gut an – und das liegt in der Natur der Sache. Als eher unbedarfter Darsteller gehe ich ja davon aus, dass man einfach nur einen Vorschlag macht, deutlich macht, was man gerne mal machen würde und vielleicht was bewirkt. Bei der künstlerischen Leitung kommt das erst mal als Genörgel an – je nach Ton sogar als nerviges Genörgel – selbst wenn es nicht so gemeint ist. Jetzt bemüht sich ein Regisseur ja immer darum, interessante Stoffe zu finden, interessante Stücke zu finden – oft mehr als zwei oder drei Jahre im Voraus. Und dann kommt da jemand her und sagt, können wir nicht mal was Lustiges machen? Können wir nichts Populäres machen? Können wir nichts machen, was uns Zuschauer bringt?
An der Stelle tickt man natürlich innerlich aus. Innerer Monolog: ‚Etwas, was Zuschauer bringt? Ja, hast du sie noch alle? Was glaubst du, wie ich plane? So, dass möglichst wenige Zuschauer kommen?‘ – rein äußerlich lässt man sich natürlich kaum etwas anmerken, aber das trifft einen schon. Das klingt ja, gut gemeint wie es sein mag, einfach nach einer fiesen Unterstellung. Jetzt kommt noch eine Sache hinzu, die nochmal tiefer trifft. In den Gruppen, von denen ich sprach, ist es relativ üblich, dass die künstlerische Leitung auch als Autoren und Komponisten aktiv sind, sprich, eigene Stücke auf die Bühne bringen. Der mehr oder weniger versteckte Vorwurf der immer wieder erhoben wird, ist dann: „Wenn wir bekannte Stücke machen würden, dann hätten wir auch mehr Zuschauer. Ihr macht das ja alles nur, um Eure eigenen Stücke auf die Bühne zu bringen, als ob nur Ihr was Vernünftiges schreiben könnt … etc.“
Das tut weh! Ganz einfach und direkt, denn es trifft ein bisschen – natürlich ist man stolz auf jedes eigene Stück, natürlich gehört das Schreiben zu den Sachen, die einem wichtig sind – und noch viel mehr ist es unfair. Ich, zum Beispiel, habe das Schreiben von Stücken angefangen, bevor ich ernsthaft ins Regiebusiness einstieg, habe aber beides eigentlich nicht verbunden. Aber dann habe ich die Realitäten des Jugendtheaters kennengelernt. Junge begabte Menschen wollen Theater spielen, doch die Gruppe ändert sich von Woche zu Woche, man kann sich nie darauf verlassen, dass man nicht drei Wochen vor der Premiere noch eine Abmeldung bekommt, oder fünf Wochen vorher noch eine neue Rolle gebraucht wird. Und dann gibt es kaum Stücke für junge Gruppen, und dann sind alle Stücke so gestrickt, dass man sieben Rollen für Jungs hat und nur drei für Mädels, man hat aber acht Mädels und zwei Jungs – und ist noch froh, dass es so viele männliche Wesen gibt. An der Stelle habe ich aus Notwehr angefangen, die Stücke für meine Gruppen selbst zu schreiben – allerdings nicht immer, das letzte eigene Stück bei meinen Großen habe ich vor vier Jahren gemacht, alles andere war bestenfalls von mir dramatisiert, aber keine eigenen Stücke. Wenn man Stücke auf Gruppen hin schreibt, dann ist das auch nicht das literarische Arbeiten, dass man sich so vorstellt. Ich hab dann eben nicht nur das Stück im Hinterkopf und lass es langsam durch meine Finger auf die Tastatur tropfen, ich muss immer überlegen, kann der Mensch das spielen, ja, das wäre eine hübsche Rolle, aber ist wer dafür da? Und kommt die nach der Szene mit dem Umziehen hin? Und woher nehm ich jetzt noch eine Mädchenrolle? – Nein, will ich einfach nur ein Stück schreiben, dann habe ich vielleicht bei der einen oder anderen Rolle einen Darsteller im Hinterkopf, den ich mir in dieser Rolle vorstelle, das kann dann aber auch gut jemand sein, mit dem ich vor zehn Jahren mal zusammen gespielt habe oder eine Darstellerin, die leider vor einiger Zeit aufgehört hat – ich nutze da nur die Gesichter als Anhaltspunkte. Das richtige Schreiben ist frei von den Zwängen, die von den Gruppen aufgelegt werden – im besten Fall habe ich ein Grundthema, bei dem eine gewisse Anzahl an Rollen vorhanden ist, die der Anzahl an Menschen in der Gruppe grob entspricht, dann kann ich drauf los schreiben, sehr angenehm das.
Ja, ich merke, ich verteidige das Schreiben, das Selbst-Schreiben – aber das ist es ja nicht allein. Ich weiß nicht, wie das bei anderen ist, ich auf jeden Fall lese immer wieder Stücke, höre sie als Hörbücher, schaue mir auch einiges an, und bin dabei immer auf der Suche nach neuen Stücken für meine Gruppen, ich überlege an vielen Projekten, überdenke dabei die Gruppenkonstellation, die Möglichkeiten der Produktion – Budget ist hier ein nettes Stichwort – die Frage, ob sich ein Publikum findet, ob man etwas dem leicht provinziellen Publikum überhaupt vorsetzen sollte – und dann kommen völlig unspezifische Wünsche, die das Gefühl vermitteln, dass man eigentlich immer nur Mist macht, zumindest aus Sicht seiner Darsteller – an manchen Tagen wünscht man sich dann halt doch andere Tätigkeiten. Natürlich kommt einem da auch manchmal die Idee, dem Gegenüber vor Augen zu führen, wie weit er denkt; dass man alle Gedanken, die er sich da gerade macht, schon vor Jahren gemacht hat, dass man sich beide Beine ausreiße, um richtig gutes Theater mit relativ wenig Mitteln zu machen, dass man an Rechte und Budgets, an Besetzungen und Bühnenverhältnisse denkt, mit denen die Vorschläge so gar nichts zu tun haben, und das geht durchaus so weit, dass man die oft eher fantasielosen Vorschläge auch ablehnen muss, weil man einfach weiter ist, weil man kein schlechtes Boulevardtheater machen will – gutes Boulevard gern, aber es ist wenig zu finden, fast alles völlig überholt und dann auch noch so schwer, dass es die Hälfte der durchaus guten Gruppen überhaupt nicht auf die Reihe kriegen würde -, und letztlich, ich bau eine Gruppe auf, setze Herzblut herein, setze Engagement rein, arbeite oft genug für drei Euro pro Stunde und jetzt nehm ich mir auch das Recht raus, weiterhin zu entscheiden, wo es hin geht. Wenn jemand den Weg nicht mitgehen will, bitte, Reisende soll man nicht aufhalten.
Das klingt viel härter, als es ist, natürlich versucht man Kompromisse zu machen, natürlich hört man auch wohlwollend zu, wenn Kritik und Vorschläge kommen. Aber mal ein Tipp: Sucht Stücke, lest, hört, seht. Und wenn Ihr etwas gefunden habt, was von der Besetzung her geht, wenn Ihr wisst, dass die Rechte zu einem nicht allzu erschreckenden Preis zu erwerben sind. Wenn Ihr wirklich begeistert davon seid – dann geht hin, zur künstlerischen Leitung, zum Regisseur, und dann gebt Eure Begeisterung weiter, denn für Begeisterung haben wir doch immer ein Ohr.
Wie viel muss der Zuschauer verstehen?
Ich versuch gerade nach Kräften einer Schulproduktion zu helfen, einem kleinen von Schülern selbstgeschriebenen Musical mit ABBA-Songs, das schauspielerisch ein wenig gecoacht werden muss. Dabei unterhält man sich natürlich mit den Kollegen über diverse Dinge und dabei kam die Frage auf, was die Zuschauer verstehen müssen, und was nicht.
So eine Frage führt bei mir ja schon mal zu Meditationen – ich hab mir diese Frage noch nie gestellt, obwohl ich nun schon einige Jahre die Position des Autoren und Regisseurs gerne inne hab. Natürlich hab ich eine impulsive Meinung, die ich nicht geäußert habe, weil ich mir im fast gleichen Moment dachte, dass das eine Meditation verdient.
Das eine Extrem: Ich versteh nix!
Es kommt selten vor, aber es passiert. Das Stück beginnt, ich sehe Bilder, ich höre Sprache und frage mich die ganze Zeit, was denn da los sei. Da ist die Inszenierung nur rudimentär mit dem Text verknüpft, der Regisseur hat vor lauter Ideen vergessen, dass er gefälligst eine Geschichte zu erzählen hat, oder zumindest Mini-Dramaturgien ausspielen muss. Inszenatorische Onanie! Find ich ätzend.
Das andere Extrem: Alles wird erklärt!
Bei manchem Klassiker ist es sogar stückimmanent – die ganze Zeit wird jedes Detail herausgeplärrt, auf das der „doofe“ Zuschauer auch wirklich keinen Zusammenhang verpasst, also gar keinen. Deswegen hat es ja oftmals auch Sinn, Klassiker zusammenzustreichen, aber das nur nebenbei. Auch passieren nur Sachen, die angekündigt und reflektiert werden, alles wird erklärt, es gibt kein Geheimnis mehr – auch furchtbar. Das ist einfach kitschig und noch viel schlimmer, es ist langweilig. Die Zuschauer brauchen nicht mitdenken, das ist nur für die ganz hartgesottenen RTL-Zuschauer erträglich, und die gehen nicht ins Theater. Macht man es dem Zuschauer zu leicht, schläft er ein.
Der Mix macht es – natürlich!
Ach ja, wie so oft in der Kunst, es dürfen einfach nicht die Extreme sein. Es muss Geheimnisse geben, es muss Sachen geben, die man nicht im ersten Moment versteht. Ja, es ist sogar erlaubt, dass man einzelne Details als Zuschauer übersieht, dass man ein paar Sachen gar nicht so einfach verstehen kann. Wie wunderbar, wenn man ein Stück dreimal sehen muss, bis man alles verstanden hat. In einem Stück über Widerstand im dritten Reich gab es mal den legendären Satz „Ich war gerade beim „T“ von Arschloch“ – ein junger Mann war beim Malen von Parolen überrascht worden. Der junge Mann, der diesen Satz sagte, hat den Gag dahinter erst beim dritten Proben nach Erklärung verstanden – und das, obwohl er meistens ein cleveres Bürschchen ist. Natürlich meinte seine Rolle, dass er gerade das „T“ in Hitler geschrieben habe – damit die Leser den Gag auch erklärt bekommen, Entschuldigung, ich will nur mit offenen Karten spielen. Ich persönlich habe mich beim Schreiben des Gags schon mal kräftig amüsiert, ich fand ihn auch im Stück noch recht lustig. Von den gut zweihundert Zuschauern, die das Stück damals gesehen haben, haben da nicht so viele gelacht, nein, das haben nicht viele verstanden, wer denkt auch um so eine Ecke? Aber die, die es nicht verstanden haben, verpassten nichts Wichtiges, und die, die es verstanden haben, hatten einen kleinen Extrakick. Fand ich super, find ich auch heute noch super.
Und das bringt mich zu einer These: Das Wichtige muss einfach zu verstehen sein. Aber je mehr kleine Gags im Hintergrund liegen, je mehr Geheimnisse und gut durchdachte Anspielungen die Zuschauer bereichern, desto besser. Das grundsätzliche Stück sollte da nicht drunter leiden, man kann auch mit Gags an der falschen Stelle und Anspielungen und Zitaten an Stellen, an denen einfach Wichtigeres stehen müsste, ein Stück kaputt machen. Es gibt Momente, in denen die Zuschauer nicht mehr denken dürfen, sondern fühlen müssen.
Also noch mal eindeutig, die Zuschauer müssen nicht alles verstehen. Das Wichtige müssen sie aber verstehen, sonst fühlen sie sich völlig zu Recht betrogen.
Zwei Fragen bleiben:
Muss alles logisch sein?
Klare Antwort: NEIN! Nein, es muss nicht alles logisch sein, aber auch das ist eine zweischneidige Sache. Es gibt eine Bühnenwirklichkeit, der Typ, der zwanzig Zentimeter am Kollegen vorbeigeht, ihn aber nicht sieht, weil es gerade so sein muss, oder die klassische Haushälterin, die immer mal wieder über die Schulter ihre wirkliche Meinung über die Herrschaften in Richtung Publikum laut flüstert – was die Herrschaften natürlich nicht hören. Ich mag es gern auch noch ein bisschen anarchistischer und ironischer, ich hab einen großen Spaß daran, wenn die Rollen in wiederum nicht gerade den emotionalsten Momenten bemerken, dass sie in einem Theaterstück mitspielen, wenn an einer Stelle, an der sie nicht da sein kann, die Gouvernante hereinschaut und um Ordnung bittet, weil das ja nun mal ihr Job ist. So kleine Cracks in der stückimmanenten Logik sollten in Komödien immer erlaubt sein – wie gesagt, nicht an Stellen, die wirklich wichtig für die Handlung sind. Man sollte Logik nicht zu ernst nehmen – die Geschichte schon, die Logik, och nö …
Muss alles durchdacht sein?
Auch nicht. Wie oft passiert es: Man probt eine Szene zum ersten Mal, die Darsteller gehen auf die Bühne und machen etwas, und man sagt: „Das ist gut, machen wir so.“ – Und irgendwann fragt ein Zuschauer, warum hat er denn das so gemacht, warum kam sie von dort, und bietet gerne auch noch eine Interpretationsmöglichkeit an. Und dann steht man da, nickt wissend und denkt sich – ähm, Interpretation, nun, es sah gut aus … Instinkt oder so … manchmal hat Kunst vielleicht einfach was mit Können zu tun, und nicht mit Denken. Und es gibt ja oft auch den Moment, in dem man diesen kleinen unsicheren Schritt geht, von dem man weiß, dass er irgendwie richtig ist, dessen Begründung oft erst deutlich später nachkommt, vielleicht aber auch nie, und der eben trotzdem richtig ist. Es ist eben doch Kunst, und die ist nicht immer plausibel, rational und durchdacht.
Die Idee der Sicherheit in der Theaterpädagogik
Sicherheit ist in der heutigen Erziehung ja eh ein Thema, das sehr verschieden gesehen wird. So natürlich auch in der Theaterpädagogik. In einer Zeit, in der Eltern sehr oft überfürsorglich sind, Kindern keinerlei Selbstverantwortung lassen und damit also alle Selbständigkeit vernichten, muss man dieses Thema sehr ernst betrachten:
Es geht um verschiedene Interessen: Natürlich sollen den Heranwachsenden kein Schaden zugefügt werden. Körperlich ist das selbstverständlich und jedem einsichtig, psychisch ist das schon wieder eine andere Sache, man weiß einfach nicht, was schadet und was nützt, oder zumindest weiß man es nur ungefähr. Die Schüler sollen etwas lernen, auf jeden Fall viel über das Schauspielen, über das Geschichtenerzählen – im besseren Fall auch noch ganz viel über sich selbst und das Leben. Und Lernen heißt auch immer ein Risiko eingehen. Schauspielerei arbeitet mit den psychischen Bestandteilen eines Menschen, die Risiken sind da größer, als der blaue Fleck beim Fußball, das sollte jeder Theaterpädagoge immer im Hinterkopf haben – aber dennoch müssen die Risiken eingegangen werden. Grundvoraussetzung dafür, dass die Schüler über den eigenen Schatten springen und die Risiken eingehen, ist ein großes Vertrauen zum Pädagogen, das Wissen darum, dass man nicht allein gelassen wird – und das ist nebenbei ein Grund, weshalb die Distanz zwischen Lehrer und Schüler hier zwar da sein muss, aber nicht so groß sein kann, wie in anderen solchen Verhältnissen. Jetzt ist es immer eine Frage, wie man das Vertrauen von Schülern gewinnt, wahrscheinlich gibt es hunderte Geheimlehren, die von Lehrer zu Lehrer weitergegeben werden, aber letztlich bin ich bisher nur auf eine Möglichkeit gekommen – Wohlwollen und Ehrlichkeit.
Das Wohlwollen ist für mich einfach, kaum überschreitet jemand die Grenze in meine Gruppen hinein, hat er meine Sympathie, von dieser Regel gab es in den letzten sechs Jahren eigentlich keine Ausnahme – manchmal gehen mir Menschen fürchterlich auf den Geist, aber ich mag sie trotzdem und versuche, sie ein bisschen auf einen besseren Weg zu bringen, ihnen die richtige Einstellung nahe zu legen. Im Prinzip frage ich mich halt bei jedem neuen Darsteller, was man mit ihm wohl machen kann, wohin man ihn stellt, was er zeigen kann – das impliziert ein sofortiges Interesse an dem Menschen, und irgendwie geht ja auch kein Interesse ohne Wohlwollen – das verbindet sich also recht problemlos.
Ehrlichkeit ist der andere Teil – ich verabscheue pädagogische Lügen, ich spiel niemandem etwas vor, wenn ich nicht gut drauf bin, lasse ich das natürlich an niemandem aus, aber ich spiel auch nicht heile Welt vor, noch nicht mal Sechsjährigen. Wie sollen die denn lernen, welche Stimmungen Menschen haben, wenn die durch eine Zuckerwattewelt gehen? Stimmungen sind ja sogar ein wichtiges Thema, etwas, das man beherrschen muss, wenn man die Bühne betritt – und hier kommt dann das Seltsame: Ich kann natürlich die Stimmung spielen, die ich spielen will, so viel Schauspieler bin ich, aber ich bin auch ziemlich idealistisch in dieser Hinsicht: Ich finde Schauspielen im normalen Leben unredlich, ja unethisch. Jemandem Gefühle zeigen, die man nicht hat, ist eine Kunst, aber die sollte man sich für die Bühne vorbehalten (wer das nicht kann, hat nichts auf der Bühne verloren, klar, aber wer es kann, der sollte es nicht im normalen Leben ausnutzen, denn das ist letztlich immer Betrug). Also bin ich ehrlich, in meinen Stimmungen, in meiner Wortwahl. Mieses ist nie „gut“ und schon gar nicht „toll“, eher schon „das ist es noch nicht“, Fragwürdiges muss auch wirklich hinterfragt werden und wenn ich sage: „Sieht doch schon nach Theater aus!“, dann sehe ich in zufrieden grinsende Gesichter, weil alle wissen, dass ich das auch ernst meine.
Wenn man sich ernsthaft und wohlwollend für Kinder und Jugendliche interessiert und ihnen nichts vormacht, dann vertrauen sie einem auch. Dieses Vertrauen ist wichtiger, als jede scheinbare Sicherheit oder plumpe Freundlichkeit. Scheinbare Sicherheit ist zum Beispiel die Gebetsmühle „Du schaffst das schon!“ – nein, vielleicht schaffst du es, vielleicht schaffst du es nicht, ein Scheitern wäre aber nie schlimm. Das einzige, was schlimm wäre, ist ein spanungsloses Irgendwie-Durchwursteln – und deshalb sollte man Schüler nie in ein überbordendes Selbstvertrauen reden, sondern vielmehr auf ein gutes Selbstbewusstsein hin arbeiten, und nein, die Begriffe sind alles andere als synonym. Selbstvertrauen kann auch hohl sein und leer, und strotzt ein Kind vor diesem falschen Selbstvertrauen, ist es schon grob fahrlässig, es auf die Bühne zu schicken – denn der Fall ist dann umso härter. Selbstbewusstsein ist das Zauberwort, und zwar im Wortsinne, denn Schauspielen kann nur jemand, der sich über sich selbst bewusst ist, der sich kennt, Stärken und Schwächen bei sich selbst benennen kann. Und ich versuche, meine jungen Darsteller genau dahin zu bekommen. Aber hier beißt sich das Kätzchen ja auch schon ins verlängerte Rückgrat, denn ein solches Selbstbewusstsein ist nur durch Ehrlichkeit und wiederum Wohlwollen zu erreichen.
Sucht man hier ein Fazit, dann muss es die Bereitschaft zum Risiko sein, die man seinen Darstellern mitgeben muss – dazu gehört übrigens auch, dass man mit seinen Projekten Risiken eingeht, also auch mal Sachen inszeniert, die vielleicht eigentlich den einen Schritt zu schwer für die Gruppe scheinen, zu anspruchsvoll, zu gewagt, zu verrückt – denn genau da fängt die Kunst ja an. Und zu der Bereitschaft zum Risiko ist natürlich die Bereitschaft zum Auffangen verbunden – denn man arbeitet ja mit Kindern und Jugendlichen, und manchmal riskieren die halt doch mal mehr, als sie sollten, und dann muss man da sein, ein breites Kreuz haben und für die Verunfallten da sein.