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Musical und Tanz – grundsätzliche Überlegung
Aus aktuellen Gründen beschäftige ich mich im Moment mit der Kombination aus Tanz und Musical – etwas, von dem man weithin glaubt, es müsse zusammen gedacht werden. Jetzt mach ich ja deutlich mehr ganz spaßiges Sprechtheater, eine Sache, bei der extrem selten wirklich getanzt wird, also muss ich für zukünftige Musicals mal überlegen, wie ich denn zum Thema Tanz stehe.
Ich kenn das Problem, dass viele mit dem Musical haben: die seltsame Künstlichkeit. Völlig ohne Grund fangen da Leute an zu singen und zu tanzen – etwas, was zum Beispiel beim Musicalfilm „Hair“ viele zum geistigen Sofortausstieg zwingt, wenn da Leute im Central Park nicht nur sinnlos rumstehen und singen, sondern auch noch in heftigsten Verrenkungen rhythmische Gymnastik machen – ganz ähnlich bei „Jesus Christ Superstar“ – immer noch einer meiner absoluten Lieblingsfilme. Diese Tanzerei ist ästhetisch hübsch anzusehen, aber ob sie der Geschichte irgendwas gibt, ist zumindest zweifelhaft. Würden diese wunderbaren Musicals auch funktionieren, wenn da nicht getanzt würde? In gewisser Weise ja.
These: Musical geht auch ohne Tanz!
Im Prinzip schon, bei der Oper funktioniert es auch großflächig, warum sollte es also bei Musicals anders sein? Gehe ich davon aus, dass ich im Bereich des Musical Drama bin – einem Bereich, der mir wahrscheinlich sogar eher liegt – dann brauch ich doch eher eine sensible Regie, als irgendwelche Tanzschritte, oder? In der Musical Comedy kann ich wunderbar karikieren und ironisieren über Tanz; ja klar, aber im Drama brauch ich die Ironie ja nicht unbedingt.
Aber Tanz kann doch auch etwas aussagen!
Ja, aber er macht es so selten. Schau ich mir den üblichen Einsatz von Tanz in Musicals an, so bleibt heute fast nur noch das Erzeugen von Dynamik, was ja schön und gut ist, aber nicht unbedingt alles, was Tanz kann. Ansonsten ist Tanz viel zu oft ein schmückendes Beiwerk. Das große Finale wird getanzt, weil es immer so nett aussieht, wenn das ganze Ensemble im Tanz vereint ist – schmückendes Beiwerk. Dafür brauchen wir keinen Tanz.
These: Musical braucht Tanz, aber sinnvoll!
Ich mag Verfremdungen, ich bin der festen Überzeugung, dass absichtliche Brüche in der Illusion eine gute Sachen sind, allerdings nur an den richtigen Stellen, ich benutze auch immer gern Bilder an gewissen Punkten einer Inszenierung, die aus der Bühnenrealität ein wenig herausfallen. Ich denke, an dieser Stelle hat im Musical der Tanz eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Das kann der ironisierende Marsch sein, das kann die Roboterarmee sein, die die Protagonisten in die Flucht schlägt, aber auch die vorsichtige Annäherung zweier Menschen, die ohne Worte, aber mit viel Musik und getanzt geschieht. Unterhalten sich zwei Menschen, gehen dann in Gesang über, so mag das noch die Bühnenrealität verkraften, fängt nun noch einer von beiden an zu tanzen, so mordet das oft die Illusion und ist deswegen oft genug nicht angemessen und –bracht. Tanz darf nicht eingestreut werden, damit der Choreograph etwas zu tun hat, sondern um der Geschichte zu dienen, dem Stück zu dienen – schaut man sich das Tanztheater einer Pina Bausch an, dann weiß man, wie viel Tanz ausdrücken kann. Die gleiche Tiefe sollte Tanz auch im Musical haben, sonst wird er zu Aerobic.
High Fidelity … Musical … Essen …. Folkwang …
Am Freitag hatte ich die tolle Möglichkeit, die Erstinszenierung des High Fidelity-Musicals zu sehen, in Essen, im Rathaus-Theater, gespielt von der Abschlussklasse der Musicalabteilung der Folkwang-Schule – also junge Menschen auf der Bühne, die so gut sind, dass einem vor Neid schlecht werden könnte, wenn, ja wenn man nicht so mitrocken würde und vor allem so viel lachen.
Vielleicht kennt der eine oder andere den Roman „High Fidelity“ von Nick Hornby, einen Film gibt es auch – ich habe beides bisher nicht registriert gehabt – ich geb das zu, auch wenn ich vielleicht nun Banause gerufen werde. Auf jeden Fall ist die durchaus konventionelle Liebesgeschichte so unkonventionell erzählt, dass man fast von Anfang an richtig was zu lachen hat. Kauzige Charaktere, große Gewissensnöte, eine Menge Anspielungen auf gute und nicht so gute Musik, die man aber gar nicht unbedingt alle verstehen muss, um einfach viel Spaß zu haben.
Und ganz nebenbei stand da die junge Musicalelite Deutschlands auf der Bühne – großartige Stimmen, wundervolles Timing, und auch gar nicht die glattgebügelten Musicalstars, die üblicherweise für größere En-Suite-Stücke aus England oder Holland herangekarrt werden. Das sind richtige Typen, Schauspieler, für die das Wort noch Sinn macht. Ja, dieses Musical hat sich nicht irgendwie gelohnt, es war fantastisch, ein Hauptgewinn. Die Regie schnörkellos und clever, die Choreographie immer ein Diener des Stücks – also wirklich annähernd alles richtig gemacht – ein kleiner Nachteil war vorhanden, aber der lag an meinem Sitzplatz – ich konnte manchmal die Stimmen und daher den Text der kongenialen Übersetzung nicht wirklich gut verstehen. Egal, ich bin auch so erst mal nur dankbar – war ein Highlight nach einer verrückten Woche.
Wie viel muss der Zuschauer verstehen?
Ich versuch gerade nach Kräften einer Schulproduktion zu helfen, einem kleinen von Schülern selbstgeschriebenen Musical mit ABBA-Songs, das schauspielerisch ein wenig gecoacht werden muss. Dabei unterhält man sich natürlich mit den Kollegen über diverse Dinge und dabei kam die Frage auf, was die Zuschauer verstehen müssen, und was nicht.
So eine Frage führt bei mir ja schon mal zu Meditationen – ich hab mir diese Frage noch nie gestellt, obwohl ich nun schon einige Jahre die Position des Autoren und Regisseurs gerne inne hab. Natürlich hab ich eine impulsive Meinung, die ich nicht geäußert habe, weil ich mir im fast gleichen Moment dachte, dass das eine Meditation verdient.
Das eine Extrem: Ich versteh nix!
Es kommt selten vor, aber es passiert. Das Stück beginnt, ich sehe Bilder, ich höre Sprache und frage mich die ganze Zeit, was denn da los sei. Da ist die Inszenierung nur rudimentär mit dem Text verknüpft, der Regisseur hat vor lauter Ideen vergessen, dass er gefälligst eine Geschichte zu erzählen hat, oder zumindest Mini-Dramaturgien ausspielen muss. Inszenatorische Onanie! Find ich ätzend.
Das andere Extrem: Alles wird erklärt!
Bei manchem Klassiker ist es sogar stückimmanent – die ganze Zeit wird jedes Detail herausgeplärrt, auf das der „doofe“ Zuschauer auch wirklich keinen Zusammenhang verpasst, also gar keinen. Deswegen hat es ja oftmals auch Sinn, Klassiker zusammenzustreichen, aber das nur nebenbei. Auch passieren nur Sachen, die angekündigt und reflektiert werden, alles wird erklärt, es gibt kein Geheimnis mehr – auch furchtbar. Das ist einfach kitschig und noch viel schlimmer, es ist langweilig. Die Zuschauer brauchen nicht mitdenken, das ist nur für die ganz hartgesottenen RTL-Zuschauer erträglich, und die gehen nicht ins Theater. Macht man es dem Zuschauer zu leicht, schläft er ein.
Der Mix macht es – natürlich!
Ach ja, wie so oft in der Kunst, es dürfen einfach nicht die Extreme sein. Es muss Geheimnisse geben, es muss Sachen geben, die man nicht im ersten Moment versteht. Ja, es ist sogar erlaubt, dass man einzelne Details als Zuschauer übersieht, dass man ein paar Sachen gar nicht so einfach verstehen kann. Wie wunderbar, wenn man ein Stück dreimal sehen muss, bis man alles verstanden hat. In einem Stück über Widerstand im dritten Reich gab es mal den legendären Satz „Ich war gerade beim „T“ von Arschloch“ – ein junger Mann war beim Malen von Parolen überrascht worden. Der junge Mann, der diesen Satz sagte, hat den Gag dahinter erst beim dritten Proben nach Erklärung verstanden – und das, obwohl er meistens ein cleveres Bürschchen ist. Natürlich meinte seine Rolle, dass er gerade das „T“ in Hitler geschrieben habe – damit die Leser den Gag auch erklärt bekommen, Entschuldigung, ich will nur mit offenen Karten spielen. Ich persönlich habe mich beim Schreiben des Gags schon mal kräftig amüsiert, ich fand ihn auch im Stück noch recht lustig. Von den gut zweihundert Zuschauern, die das Stück damals gesehen haben, haben da nicht so viele gelacht, nein, das haben nicht viele verstanden, wer denkt auch um so eine Ecke? Aber die, die es nicht verstanden haben, verpassten nichts Wichtiges, und die, die es verstanden haben, hatten einen kleinen Extrakick. Fand ich super, find ich auch heute noch super.
Und das bringt mich zu einer These: Das Wichtige muss einfach zu verstehen sein. Aber je mehr kleine Gags im Hintergrund liegen, je mehr Geheimnisse und gut durchdachte Anspielungen die Zuschauer bereichern, desto besser. Das grundsätzliche Stück sollte da nicht drunter leiden, man kann auch mit Gags an der falschen Stelle und Anspielungen und Zitaten an Stellen, an denen einfach Wichtigeres stehen müsste, ein Stück kaputt machen. Es gibt Momente, in denen die Zuschauer nicht mehr denken dürfen, sondern fühlen müssen.
Also noch mal eindeutig, die Zuschauer müssen nicht alles verstehen. Das Wichtige müssen sie aber verstehen, sonst fühlen sie sich völlig zu Recht betrogen.
Zwei Fragen bleiben:
Muss alles logisch sein?
Klare Antwort: NEIN! Nein, es muss nicht alles logisch sein, aber auch das ist eine zweischneidige Sache. Es gibt eine Bühnenwirklichkeit, der Typ, der zwanzig Zentimeter am Kollegen vorbeigeht, ihn aber nicht sieht, weil es gerade so sein muss, oder die klassische Haushälterin, die immer mal wieder über die Schulter ihre wirkliche Meinung über die Herrschaften in Richtung Publikum laut flüstert – was die Herrschaften natürlich nicht hören. Ich mag es gern auch noch ein bisschen anarchistischer und ironischer, ich hab einen großen Spaß daran, wenn die Rollen in wiederum nicht gerade den emotionalsten Momenten bemerken, dass sie in einem Theaterstück mitspielen, wenn an einer Stelle, an der sie nicht da sein kann, die Gouvernante hereinschaut und um Ordnung bittet, weil das ja nun mal ihr Job ist. So kleine Cracks in der stückimmanenten Logik sollten in Komödien immer erlaubt sein – wie gesagt, nicht an Stellen, die wirklich wichtig für die Handlung sind. Man sollte Logik nicht zu ernst nehmen – die Geschichte schon, die Logik, och nö …
Muss alles durchdacht sein?
Auch nicht. Wie oft passiert es: Man probt eine Szene zum ersten Mal, die Darsteller gehen auf die Bühne und machen etwas, und man sagt: „Das ist gut, machen wir so.“ – Und irgendwann fragt ein Zuschauer, warum hat er denn das so gemacht, warum kam sie von dort, und bietet gerne auch noch eine Interpretationsmöglichkeit an. Und dann steht man da, nickt wissend und denkt sich – ähm, Interpretation, nun, es sah gut aus … Instinkt oder so … manchmal hat Kunst vielleicht einfach was mit Können zu tun, und nicht mit Denken. Und es gibt ja oft auch den Moment, in dem man diesen kleinen unsicheren Schritt geht, von dem man weiß, dass er irgendwie richtig ist, dessen Begründung oft erst deutlich später nachkommt, vielleicht aber auch nie, und der eben trotzdem richtig ist. Es ist eben doch Kunst, und die ist nicht immer plausibel, rational und durchdacht.