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Reading King – Hier seyen Tiger/Here there be Tygres

Skeleton Crew, die Zweite. “Hier seyen Tiger” ist eine der frühesten veröffentlichten Geschichten Kings. Er war gerade mal zwanzig Jahre alt, als ein Magazin sie druckte.
Ein Junge, der Angst vor seiner Lehrerin hat, muss auf Toilette und findet auf dem Jungenklo seiner Grundschule einen Tiger vor. Der frisst auch gleich einen Mitschüler und vermutlich auch seine Lehrerin, die bald schaut, wo denn ihre Schüler bleiben. Das ist es aber auch schon.
Manchmal findet man in Kings Kurzgeschichten Momente, in denen man ihn kaum wiedererkennt. In „Hier seyen Tiger“ finden wir eine absurde Note, die in Kings Werk eher nur am Rande vorkommt. Die kleine Geschichte irritiert eher, als das sie spannend oder auch nur lustig ist. Aber, und das ist dann wieder typisch für King, es geht um den Einbruch des Übernatürlichen, oder hier zumindest des Abnormalen in eine ganz normale Welt.
Man könnte jetzt heruminterpretieren, ob der Junge das alles wirklich erlebt, ob es nicht vielleicht einfach nur eine Fantasie ist, aber das ist nicht der Kern. Es passiert hier etwas Unerklärliches, mit dem ein kleiner Junge umgehen muss. Und mit sechs Jahren ist manches noch viel einfacher zu erklären, als mit 35. Der Junge kommt damit klar, dass da ein Tiger ist. Ist schon okay.
In seinen frühen Geschichten geht es bei King ständig um Kinder, um Schule, um Jugendliche. Ist es ein Wunder, er war ja auch selbst noch jung. Man schreibt über das, was man kennt. In seinen Kurzgeschichten verarbeitet er sicher auch biografisches Material und zu dieser Geschichte hat er mal gesagt, dass er es gut gefunden hätte, wenn seine Lehrerin der ersten Klasse von einem Tiger gefressen worden wäre – er hat Angst vor ihr, so wie der Junge in der Geschichte Angst vor seiner Lehrerin hat. So mag diese Geschichte auch eine kleine Selbsttherapie sein.

Reading King: Doctor Sleep/Doctor Sleep

Ups, da bin ich doch glatt mal aktuell. „Doctor Sleep“ ist der aktuelle King, und eine Reise zurück, eine Reise durch die Zeit und eine lange Reise. Schaute schon in „Joyland“ der Tod selbst gar nicht so selten um die Ecke, in diesem Buch wird er das Hauptthema.

Einer Reise in die Vergangenheit? Ja, wir sind zurück  bei Danny Torrance, dem kleinen Jungen aus  The Shining, wir schauen in die Zeit nach dem Overlook Hotel, wir sehen ihn dann wieder, als er seinem Vater in die Alkoholsucht folgt. Wir sehen seinen Tiefpunkt, als er einer alleinerziehenden Mutter das letzte Geld klaut und einem Obdachlosen die Decke klaut. Wir schauen zu, wie er in Frazier ein neues Zuhause findet, gar nicht weit von Castle Rock entfernt, aber ausnahmsweise nicht in Maine.

Er macht die harte Geschichte mit, geht zu den Anonymen Alkoholikern, arbeitet in einem Hospiz und sein Shining, das er immer versucht hat, stumm zu trinken, kommt wieder. Er kann damit Sterbenden sogar helfen. Gleichzeitig lernen wir die kleine Abra Stone kennen, ein Mädchen, das noch mehr Shining hat, als sogar Dan es als Kind hatte. Sie ist für einiges an Poltergeistphänomen zuständig, und früh nimmt es Kontakt zu Tony auf, dem imaginären Freund aus Dans Kindheit. Eines Tages wird Dan ihr Lehrer sein, so wie es Dick Hallorann für ihn war.

Und der dritte Mitspieler, in diesem Fall der Antagonist, denn ohne geht es nun mal nicht, ist Rose, die Anführerin des Wahren Knotens, einer Gemeinschaft von vampirischen Wesen, die man einst aus Menschen mit Shining umwandelte. Sie ernähren sich von Steam, der natürlichen Kraft des Shinings, am liebsten hart durch Schmerz gereinigt. Manchmal, wen sie starke Vorahnungen haben, ernähren sie sich auch von Unglücken und der erquicklichen Atmosphäre einer mörderischen Gegend, aber zu Tode gequälte Kinder mit Shining sind der Knüller, die Delikatesse für sie.

Eines Tages, Abra ist zehn, wird sie telepathisch Zeuge von einem dieser Morde, und nun gibt es eine Verknüpfung, die eines Tages zu einer spektakulären Endabrechnung ausgerechnet in den Bergen Colorados stattfinden muss, dort, wo einst das Overlook explodierte.

Hm, ich hatte mir eigentlich fest vorgenommen, erst über „The Shining“ zu schreiben, dass ich vor weniger als einem Jahr gelesen habe, was also noch recht frisch ist. Dann habe ich aber jede freie Minute in Doctor Sleep gesteckt, weil es nun mal so verdammt spannend ist, und bin noch nicht dazu gekommen.

Jetzt würde ich gerne von Doctor Sleep genauso schwärmen, wie ich das bei Joyland getan habe, Meisterwerk und so, ihr kennt das. Aber es tut mir leid. So spannend Doctor Sleep ist, so sympathisch Abra und so vieles in diesem Buch wirklich gelungen ist, so richtig von innen hat es mich nicht gepackt. Vielleicht, weil die Beschäftigung mit dem Tod durch Doctor Sleep, also Dan Torrance ein bisschen arg optimistisch scheint, vielleicht, weil das „Kreisen“ der Mitglieder des Wahren Knotens so arg schräg wirkt. Weil die Geister aus Shining nicht so richtig mit den Wahren harmonieren – wir haben hier quasi zwei leicht verschiedene parapsychologische Erklärungswesen nebeneinander, eben die von Shining und die des neuen Buches. Das passt einfach nicht ganz zusammen.

Und es geht auch alles ein bisschen zu glatt und einfach – und eine Wendung relativ spät im Buch, knackt ein bisschen, kein Deus-ex-Machina, aber zumindest sein Schatten. Das Ende ein bisschen zu harmonisch, ein bisschen zu zerfasert.

Jetzt habe ich so viel gemeckert, das ist alles Folge des Schlusses, der mich halt auch ein bisschen geärgert hat. Aber es gibt eine Sache in diesem Buch, die äußerst gelungen ist, und das sollte ich hier dann auch nicht verschwiegen. Die Mitglieder des Wahren Knotens, diese Halbvampire sind sehr sozial untereinander, freundlich und mitfühlend. Eine große harmonische Familie, die nur halt dann und wann ein Kind schlachtet. Eine so menschliche Form von Ungeheuern schaffen nicht viele Schriftsteller des Genres – hier zeigt King, dass er das Handwerk des Horrors nicht verlernt hat, auch wenn dieser Teil seines Werks gefühlt schon ein paar Jahre zurück liegt. In diesem Buch geht es ein Stück weit zurück in die Zeiten von Christine, Feuerkind und natürlich Shining – und diese Bösewichte sind noch mal ein Stück seltsamer und in ihrer Einstellung widerlicher. Aber, wie sagt Rose The Hat so schön: „Was tun wir anderes, als ihr, wenn ihre Tiere schlachtet?“

Lesenswert? Ja klar, es gibt kaum einen King, der nicht wenigstens lesenswert ist. Aber ich gebe zu, meine Erwartungen steigen nach einem Buch wie Joyland natürlich noch, wenn das möglich ist, und Doctor Sleep ist eben nur ein gutes Buch, kein Meisterwerk.

Reading King: Das Leben und das Schreiben/On Writing

Ich habe einige Bücher von Stephen King, die ich schon mehrfach gelesen habe, dafür, dass es dieses Buch noch gar nicht soo lange gibt, ist On Writing dabei der definitive Spitzenreiter. Und dabei ist es ja noch nicht mal ein Roman, in dessen Geschichte man sich entführen lassen kann.

On Writing ist halb ein Buch über das Schreiben von Büchern – und man merkt immer wieder im Buch, dass es dieser Teil ist, der King wichtiger ist , und einer Autobiographie, die er mit seiner Lust am Erzählen farbig und bisweilen schonungslos mit seinem Leben füllt. Allerdings ist das Buch nicht zwei- sondern dreigeteilt, und das liegt an Kings Schicksal, von einem Pickup beim Spazierengehen fast umgebracht zu werden. Zu dem Zeitpunkt seines schweren Unfalls, war das Buch schon zu einem großen Teil fertig, und es war das erste, an dem King nach dem Unfall, Monate nach dem Unfall, wieder arbeitete. Also war es sicherlich für ihn keine Frage, diesen Programmpunkt noch einzuarbeiten.

King lässt sich in Karten gucken, so könnte man das Buch auch nennen. Er schildert Situationen in seinem Leben, die an Situationen in seinen Büchern erinnern – besonders einige frühe Kurzgeschichten, so bemerkt man schnell, sind stark autobiographisch. Er erzählt, wie er das Schreiben gefunden hat, wie er seine ersten Gehversuche unternahm, wie er an einem Nagel Ablehnungsschreiben von Zeitschriften sammelte. Und dazwischen immer wieder kleine Geschichten, deren Spuren man als treuer Leser schon lange gefunden hat.

Manchmal ist die Ehrlichkeit, mit der King über seine Drogenprobleme, seine überwundene Alkoholsucht schreibt, wirklich bedrückend. Wenn er schreibt, dass er sich nicht mehr an die Momente erinnert, in denen er „Cujo“ schrieb, dann kann das schon beklemmen.

Viel heller ist dagegen der Teil, der übers Schreiben selbst geschrieben steht. Und auch wenn es genügend ach so Intellektuelle gibt, die das literarische Potential Kings nicht sehen, King hat eine Menge über das Schreiben zu sagen. Er bekennt sich dazu, einen vorgefertigten Plot nur im Notfall zu nutzen, da ihm die vorherige Festschreibung der Story zu viel zerstört. Für King ist, und das Bild ist brillant, die Geschichte ein Fossil, dass man mit Geduld und feinen Werkzeugen freilegen muss – dagegen das Werkzeug „Plot“ ist für ihn der Presslufthammer, der zwar alles freisprengt, aber eben auch viel vom Fossil zerstört.

King spricht über den Werkzeugkasten, den man sich zum Schreiben aneignen muss. Er spricht über Stil und vor allem über das, was man alles falsch machen kann. Dabei zieht er selten über andere her, zeigt aber viele Beispiele, die natürlich im Original deutlich besser wirken, als in der Übersetzung. (Ich höre mir auch gerne die originale amerikanische Hörbuchfassung an, die King selbst eingesprochen hat.)

Wer selbst hier und da zur schreibenden Zunft gehört, der ist ein Adressat für dieses Buch, denn es sagt nicht nur, wie es geht – oder genauer, wie es für King geht, er sagt immer wieder, dass es sein Weg ist und andere sicher anders ihre Ergebnisse erreichen -, er macht auch Lust auf diese weite Welt der Fantasie, die man selbst erforschen kann. Er macht wirklich Lust aufs Schreiben.

Ansonsten ist das Buch natürlich auch für alle Fans ein Geschenk, ich mein, wir freuen uns doch schon seit vielen Jahren jedes Mal, wenn King mit uns in seinen Vor- oder Nachworten spricht, oder? So viel direkte Ansprache auf einmal, ein Muss!

Reading King: Joyland/Joyland

Im Moment bin ich ja ganz und gar von King gefangen, „Wind“ habe ich gerade gelesen, „Joyland“ nun gehört und im Moment ist es „Doctor Sleep“, der mich gefangen hält. Es darf übrigens mit Freude bemerkt werden, dass sowohl „Joyland“ als auch „Doctor Sleep“ auf Deutsch unter ihrem Originaltitel erschienen sind. Da wir wissen, wie schlecht deutsche Titel von King-Büchern sonst sind, muss man diesen wirklich positiven Aspekt laut herausposaunen.

Ich habe jetzt ein großes Problem, ich muss versuchen, nicht in totale Euphorie auszubrechen, halte ich doch „Joyland“ für eines der absoluten Meisterwerke Kings. Ich mach das mal mit der Inhaltsangabe einer Inhaltsangabe: Devin Jones kommt für einen Sommer in den Vergnügungspark „Joyland“, muss bald mit seinem Liebeskummer kämpfen, da er von seiner ersten Liebe verlassen wurde. Dann gibt es da noch den Geist in der Geisterbahn, der da herumspukt, seitdem sie vor wenigen Jahren dort ermordet wurde. Und es gibt noch einen Jungen im Rollstuhl, der Muskelschwund hat und bald sterben wird. Und das alles auf weniger als 300 Seiten.

King malt sein 70er Jahre Gemälde als Ich-Erzähler und das aus der Perspektive des nun schon in die Jahre gekommenen Devin Jones. Und in manchen Momenten ist dieses Buch eine Hommage an diese Zeit, eine Hommage sicherlich auch an Kings eigene Jugendzeit, und so voll unverfälschter Nostalgie, dass die melancholischen Rückblicke eines Philipp Roth Pate gestanden haben könnten – wenn Devin vom Tod seines Freundes Tom erzählt, mit dem er seit Joyland befreundet war, dann erreicht King problemlos ganz ähnliche Qualitäten wie Roth.

Aber es ist natürlich nicht nur das. Wäre Joyland nur Nostalgie, man bräuchte dieses Buch nicht. In der Oberfläche ist es auch Gespenstergeschichte, ist es auch Detektivgeschichte – und damit bringt es eine Menge Spannung mit. Es ist auch eine Geschichte vom Erwachsenwerden, von Liebeskummer und Freundschaft, ja sogar von einem ersten Sex. Und es ist eine Geschichte vom Tod, von der Vergänglichkeit, die ihre morbiden Finger gerne mal an allen möglichen Stellen ins Bild schiebt.

Aber neben all dem gefällt mir persönlich eine ganz besondere Note in diesem Buch: Die Liebe zur Unterhaltung. Wie sagt Mr. Easterbrook, der uralte Besitzer von Joyland: Wir verkaufen hier Spaß, Sie haben das Privileg, einen Sommer lang Spaß zu verkaufen. Und natürlich tun das nicht nur die Schausteller vom alten Schrot und Korn, natürlich macht das auch King selbst in großem Maße – und King verneigt sich hier vor der Unterhaltung und allen, denen es am Herzen liegt, ihrem Publikum Erfahrungen zu vermitteln, Erinnerungen zu schenken, die etwas Besonderes sind. Keine Ahnung, wie viele Wochen oder Monate meines Lebens Stephen King ganz elementar mit seinen Büchern bereichert hat, wie viele tiefe Gefühle er mir verabreicht hat, wie oft ich gelacht habe, mich gegruselt, oder vor Spannung total nervös war. Wie oft er mir Spaß verkauft hat. Ich danke für jedes Mal!

Reading King: Wind / The Wind through the Keyhole

So, wieder mal ein Beitrag aus der Reading King-Reihe, heute geht es um ein recht neues Buch, den Wind durchs Schlüsselloch, gerne als Der Dunkle Turm 4,5 bezeichnet. Im Ablauf des Zyklusses steht dieser Roman also zwischen Band 4 „Glas“ und Band 5 „Wolfsmond“. King hat selbst gesagt, dass er einfach mal wieder an Mittwelt zurückgedacht hat und gemerkt hat, dass es hier noch eine Lücke gab, die er füllen konnte.

Das spannende an diesem Buch ist die Konstruktion einer Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte. Der Rahmen ist der gefährliche Stoßwind, der wie ein Blizzard in fünffach fies das Ka-Tet um Roland Deschain bedroht. Sie retten sich rechtzeitig in ein Steinhaus, dass sie gegen einen Temperaturabfall von locker fünfzig Grad abdichten. Dann müssen sie diesen Eissturm abwarten und Roland erzählt eine Geschichte aus seiner Jugend, die nicht lange nach der Geschichte um Susan Delgado spielt, die er in „Glas“ erzählt.

Roland macht sich im Auftrag seines Vaters nach Debaria auf, einem Außenposten, in dem ein sogenannter Fellmann, eine Art Werwolf, sein Unwesen treibt. Dort findet Roland Spuren seiner Mutter, die ja quasi von seiner Hand gestorben ist. Aber vor allem macht er sich auf die Verfolgung von Spuren des Fellmannes. Als der eine Farm überfällt und dort ein Blutbad anrichtet, findet Roland den einzigen Überlebenden, einen Jungen, dem er bald darauf eine der alten Geschichten erzählt.

Diese Geschichte ist eben „Der Wind durchs Schlüsselloch“, und diese Geschichte erzählt ein Märchen vom unerschrockenen Tim, der seinen Vater verliert, dem sein Stiefvater ungut mitspielt, und der vom Steuereintreiber – unzweifelhaft einer Inkarnation von Randall Flagg, dem dunklen Mann – auf die Fährte gesetzt wird, die ihn erkennen lässt, dass sein Stiefvater seinen Vater umgebracht hat. Daraufhin muss Tim noch viel mehr Abenteuer erleben, um, wie es sich für Märchen gehört, zu einem guten Ende zu kommen.

Die beiden Rahmenhandlungen sind wie bei King nicht anders zu erwarten, gut erzählt, die Geschichte vom Fellmann hat viel von dem Mittwelt-Charme, der auch „Glas“ auszeichnet, sind aber letztlich nur Bühnen für das Mittwelt-Märchen vom unerschrockenen Tim. Und dieses Märchen erklärt eine Menge über Mittwelt, ohne je erklärend zu sein. Und RF, der dunkle Mann, ist hier eindeutig als Mephisto unterwegs, ein Geist, der stets verneint, jedoch ausnahmsweise mal etwas Gutes anstößt. In dieser kleinen Geschichte werden wir Zeuge von Folklore einer verlorenen Welt, der großartigen Schöpfung Kings.

Letztlich kann man allerdings nicht davon sprechen, dass dieses Märchen weltbewegend an sich oder für den Zyklus wäre, „Wind“ fügt insgesamt einfach weitere Farben und Atmosphäre hinzu, erzählt einen Teil der Geschichte, der etwas hinzufügt. Man kann den Zyklus ohne „Wind“ lesen, man hat es schließlich schon getan, aber mit wird alles ein bisschen runder. Fast wirkt dieses Buch, mit 400 Seiten für King ja fast nur eine Fingerübung, ein wenig altersmilde, aber man spürt als Leser ohne weiteres, dass King, wie er selbst schreibt, eine Menge Spaß an diesem Buch hatte. Nicht weltbewegend, okay, aber ein Spaß.