Was passiert, wenn wir alle schreiben lassen?
Okay, alle reden über Chat-GPT und Konsorten was sie anrichten werden. Also rede ich da auch mal drüber. (Ein Anstoß, darüber nachzudenken war der letzte Genderswapped Podcast, Folge 54. Ist damit weiterempfohlen!)
Ich lasse übrigens keinen Abschnitt des Textres von Chat-GPT schreiben, damit alle merken, dass sie nicht merken, dass da ein Computer schreibt. Abgesehen davon, dass ich das albern finde, mir ist im Moment alles, was der an Text produziert, zu glatt geschliffen und nett. Das wird sich sicherlich ändern, und ganz sicher könnte ich auch um ein paar eigentümliche Formulierungen bitten, ich schreibe sie aber lieber selbst. So, jetzt reicht es aber an Vorrede.
Kick-in-the-door-Style gesprochen: Schreibende AI wird die gleiche Auswirkung auf die Literatur haben, wie Foto auf die Malerei und Film aufs Theater. Wer jetzt nickt, schön, wer nicht weiß, wovon ich rede – weiß ich es denn selbst? Haha?! -, ich kann das erklären:
Über die Jahrhunderte hatte sich die Maltechnik entwickelt, Malende konnten Dinge darstellen, die die Realität auf spannende Art und Weise abbildete. Und viele Kunsthandwerker lebten davon, denn viele Menschen wollten sich ein brauchbares Portrait ins Wohnzimmer hängen, oder ein Bild aus Venedig, weil Venedig so schön ist. Ja, konnten sich nur die Betuchteren leisten, aber es gab einen so großen Markt, dass es neben herausragenden Künstler*innen auch jede Menge brauchbare gab, die gut davon leben konnten. Und dann kam das Foto. Und bei allen Schwächen der frühen Fotografie, eine Sache konnte das Foto besser und vor allem einfacher: Die gesehene Realität darstellen.
Folge: Das Kunsthandwerk brach weg, Portraitmalende waren nicht mehr gefragt und die Kunst entwickelte sich von dem, was das Foto konnte, rasant hinweg: Wer möchte denn die Realität abbilden? Wir bilden jetzt das Gefühl ab, wir abstrahieren und so weiter: Die bildende Kunst verwandelte sich.
Das Theater hatte sich von den Typen, die „Marmor scheißen“, den Göttern und Königen verabschiedet, hatte den Realismus entdeckt und konnte eine Sache sehr gut: Die Illusion erzeugen, man sähe gerade realen Menschen dabei zu, wie sie Dinge durchleben, durchleiden. Das Theater des Mitlebens war ganz wunderbar: Und dann kam der Film. Und japp, der konnte das mit der Illusion besser. Ich mein, wer hat sich noch nie gefragt, ob man gerade in eine Doku oder einen Film gezappt hat, richtig? Bis heute ist bis auf wenige Ausnahmen wichtig, dass Film und Serie Illusion schaffen und erhalten.
Im Theater ist das aus Prinzip schwieriger: Das Publikum hört die Spielenden atmen, riecht deren Geruch, kann sie fast anfassen: Wenn das so ist, dann ist der Typ da nicht wirklich Prinz Hamlet und die junge Frau dort nicht Nora. Das Hirn muss viel mehr Kompromisse eingehen, bevor es die Illusion schluckt, als beim Film, denn was abgefilmt wurde, ist ja passiert, richtig? (Filmmontage ist so ein geiles Werkzeug!)
Was passierte im Theater? Brecht hat Verfremdungen beschworen, um die Illusion absichtlich zu zerstören, Thornton Wilder dekonstruiert die Illusion und das absurde Theater nimmt ihm auch noch die Handlung. Das Theater hat sich vond er Illusion verabschiedet.
Okay, so weit, so gut. Aber was hat das mit schreibenden AIs zu tun? (Disclaimer: Ich weiß, Chat-GPT und weiter sind keine echten AIs, aber werden wir mal nicht spitzfindig. Es geht hier nicht um Robotergesetze …) Nun, AIs können auch etwas besser, als wir alle: Durchschnitt schreiben. Dinge reproduzieren. Gib einer solchen AI das Grundkonzept für eine klassische Romanze, einen Western, einen Krimi, und es wird dir einen 300-Seiten Roman ausspucken. Der Stil wird gut lesbar sein, niemals überraschend, aber gut bekömmlich. Die klassischen Tropes werden bedient werden und wir haben Lesefutter fürs schnelle Weglesen zwischendurch. Und wenn ihr meint: ja, aber das geht ja noch gar nicht so gut und man muss da bestimmt viel nacharbeiten: Die Technologie entwickelt sich rasant fort und ich kann mir noch gar nicht wirklich vorstellen, wie mächtig diese Tools in fünf Jahren sein werden.
Für Drehbücher gilt übrigens das Gleiche und ich will ja nicht unken, aber die übliche generische Krankenhausserie, Krimiserie oder Telenovela könnte in fünf Jahren jede Menge Folgen haben, die nicht nur von einer AI geschrieben sind: Ähnliche Techniken werden auch die die realen Darstellenden in diese Serien hinein animieren können. Das ist mit Deepfake doch quasi heute schon möglich. Und wenn ihr dann mal einen schönen Tatort wollt, so einen mit Querdulli Liefers zum Beispiel, dann sagt ihr dem Fernseher, ihr hättet darauf Bock, möchtet aber heute einen Fall, in dem auch ein gewisser Kommissar Schimanski aus Duisburg ermittelt, dann seht ihr einen spannenden Tatort mit Börne und Schimanski. Warum auch nicht?
Okay, kommt jetzt die kulturpessimistische Kelle? Es braucht keine Kunst mehr? Keine Literatur? Keine Drehbücher?
Doch, genau die wird es auch in Zukunft brauchen. Denn Computer sind vor allem schnell und nicht gerade kreativ. Es wird immer Originalmaterial brauchen, auf dem die AIs dann aufbauen. Aber vor allem, Kunst wird sich weiterentwickeln müssen. Natürlich wird es die geben, die die AIs als Werkzeug gut einsetzen können und den Markt mit generischen Büchern und Drehbüchern fluten und seien wir ehrlich, es gibt eine Menge Serien bei Netflix und im althergebrachten Fernsehen, die heute schon wirken, als ob sie von einer AI geschrieben worden wären. Ganz ehrlich, wenn ich mal Dialoge aus den üblichen Polizeiserien der öffentlich rechtlichen Sender höre, dann würde ich mir wünschen, dass da mal eine AI drüber geschaut und deren Programmierung ein paar Klischees als zu abgedroschen aussortiert hätte.
Aber es wird vor allem sehr viel originellere Dinge brauchen, die sich wirklich von dem absetzen, was eine AI produzieren kann. Das Absurde, der Wahnsinn und das Abstrakte werden Kontraste setzen. Und das wirklich tief Empfundene, das riskant Offene und schonungslos Wahre. Ich bleibe hier vage, denn ich glaube nicht, dass irgendwer genau voraus schauen kann, wo es hin geht. Aber wenn das Mittelmaß massenproduziert werden kann, kommt eine Zeit für die Avantgarde. Eine Zeit der Transformation.
Wie historische Romane nicht sein sollten – Mac P. Lornes „Robin Hood“
Im englischen gibt es die schöne Redewendung „I’m a sucker for“, die ich mal frei mit „Wenn ich davon höre, werde ich zum Trottel“ übersetzen möchte. Mir geht es so, wenn ich Robin Hood höre. Ah, die Kinderbuchversion von Pyles Klassiker habe ich so viele Male gelesen, dass ich sie quasi mitsprechen konnte, die Robin of Sherwood-Fernsehserie bleibt so eine große nostalgische Liebe. Und als ich bei Audible über die Robin Hood-Bücher von Mac P. Lorne stolperte, wurde ich wieder zum Trottel und musste sie mir unbedingt besorgen. Jetzt bin ich mit dem zweiten fast durch und weiß, mehr davon brauche ich auch wirklich nicht. Ja, es ist Robin Hood und ich will mehr … nein, nicht so.
Denn diese Robin Hood-Bücher sind eine Beleidigung fürs Hirn und ich ärgere mich quasi über jeden Moment, in dem sie mich unterhalten – das tun sie nämlich durchaus. Und vielleicht schreibe ich auch nur deswegen darüber, weil sie mich auch durchaus unterhalten. Und ganz sicher, weil ich sie so gern gut gefunden hätte.
Auf der einen Seite schreibt Lorne ja eigentlich ganz brauchbares Handwerk. Ja, ein bisschen durchschaubar ist es hier und da, aber in dieser Hinsicht erwarte ich kein Meisterwerk. Stilistisch ist das alles ein bisschen dröge für ein Erscheinungsjahr 2011 – vom Stil her hätte es auch 1961 sein können – aber bis auf die häufige Verwendung des Relativpronomens „welches“, welche ich immer affektiert finde, ist das halt schon in Ordnung. Es ist genügend spannend, es ist hier und da auch witzig und die Figurenzeichnung ist konsistent. Das einzige, was handwerklich wirklich unfassbar schlecht ist, sind alle Sexszenen. Ich höre meine Hörbücher häufig im Auto und bei den Sexszenen ist immer die Frage, ob ich gleich ins Lenkrad beiße, oder es vor fremdschämenden Lachen verreiße. Meine Fresse, erstens klingen die hart danach, als ob sie aus Softpornos der 70er abgeschrieben seien, zweitens klingen sie immer gleich und drittens bin ich ja der Meinung, dass Sexszenen zumindest minimal für den Plot auch eine Grundwichtigkeit haben sollten, also zumindest in homöopathischen Dosen, aber ich finde die hier nie. Ich sehe die Sexszenen kommen und grause mich schon die Minuten davor sehr.
Sind es diese Sexszenen, die ich wirklich schlimm finde? Nein, die sind zwar definitiv eine Sünde gegen die Literatur, aber eine lässliche Sünde. Aber zwei Dinge bringen mich wirklich in Rage. Das erste ist natürlich die Diskriminierung. Gerade darin, wie Lorne versucht, Marian als eine für ihre Zeit emanzipierte Frau darzustellen, bringt so viele üble Klischees mit sich, dass es schmerzt. Die positiv dargestellten Frauen in diesen Büchern sind immer heilkundig und umsorgen die verletzten Herren der Schöpfung und eine Königin verliert sogar vor Schock ihr Kind, als sie ein Massaker sieht, dass ihr Mann befohlen hat. Frauen sind halt so feinsinnig und zart. Die besseren Menschen sowieso, aber man muss den Jungs alles verzeihen, denn Boys will be Boys.
Und damit ist es noch lange nicht genug. Auf dem Kreuzzug – ja, natürlich geht Robin Hood mit Richard Löwenherz auf Kreuzzug, aber hallo! – sind alle Südländer undiszipliniert und hinterlistig – noch nicht mal Saladin kommt so richtig gut weg, dabei ist der doch üblicherweise ein „edler Wilder“. Nein, Lorne ist nie offensiv antimuslimisch, es kommt immer durch die Blume und quasi nebenbei. Es gibt halt keinen auch nur halbwegs vernünftigen Menschen unter den Muslimen.
Nur so nebenbei und dazwischen geschoben. Mac P. Lorne ist trotz des irgendwie englisch-gälisch anmutenden Pseudonyms ein deutscher Autor. Ich wusste das nicht und war lange Zeit verwirrt über Dinge, die ich einer wirklich schlechten Übersetzung anlastete. Unter anderem beschimpfen die Muslime die Christen ständig als „Ghiaur“, ein Wort, dass ich nur aus dem Werk von Karl May kenne – ein kurzes googlen sagt, dass ich das auch fast nur von May her kennen kann, da es eine Eindeutschung eines türkischen Begriffes ist, die es sonst eigentlich auch nirgends gibt. Auch sonst gibt es einige deutsche Begriffe, die ich in einer Übersetzung nicht erwartet hatte – und das oben schon geschilderte Problem, des ständig genutzten „welches“ – insgesamt muss ich mich wirklich bei der Übersetzenden-Zunft entschuldigen, dass ich ihnen so etwas zugetraut habe.
Zurück zu den Diskriminierungen: Ich bin ja schwerstmehrfachprivilegiert und deswegen merke ich ja bei weitem nicht jede Sauerei. Aber wenn der Dickenhass zündet, dann merke ich das inzwischen ganz gut – bin ich doch selbst mehrgewichtig. Mac P. Lorne schreibt im ersten Band über einen gewichtigen Bischof, und so ziemlich alles, was da steht, ist brutales Fatshaming. Für Lorne sind Mehrgewichtige offenbar noch nicht mal wirklich Menschen, so hämisch und widerlich äußert er sich über diesen Bischof und weidet sich an seinem Spott. Die Stelle hat mich verletzt und wütend gemacht. Das war in seiner Gemeinheit so bodenlos, dass Lorne sich schämen sollte. Und es ist ein Grund, warum ich gar kein schlechtes Gewissen habe, hier diese Romane zu sezieren. Wer so etwas schreibt, hat es nicht anders verdient. Immerhin verdient der Mann damit Geld, dass er sich über Menschen mit mehr Gewicht lustig macht.
Okay, das ist jetzt raus, einmal tief durchatmen. Ich habe ja geschrieben, dass es noch eine Sache gibt, die mich aufregt. Was könnte das – Anachronismen! Und damit meine ich nicht mal wirklich die historischen Fehler. Also, dass Königinmutter Eleonore der bezaubernden Marian Brillantschmuck schenkt. Sowas ist schon heavy. Der Brillantschliff wurde erst 1910 entwickelt – „Bares für Rares“ bildet! – und bis zum 14. Jahrhundert wurden Diamanten gar nicht bearbeitet, aber irgendwer kam mit der Zeitmaschine vorbei und – ach ja, das ist zwar nicht sehr clever, aber kann ja passieren.
Dass allerdings vor den Katharerkreuzzügen von Ketzern gesprochen wird? Dass im 12. Jahrhundert von Scheiterhaufen als Strafe für diese Ketzerei als üblicher Bestrafung in England gesprochen wird? Na ja, und dass Richard Löwenherz ein paar hundert Langbogenschützen dabei hatte, verschiebt den Einsatz dieser Waffen auch einen ganzen Haufen Jahrzehnte nach hinten. Das ist schon alles für sich so eine Sache. Das finde ich einfach schwach recherchiert und mit Gewalt herum gebogen.
Aber wirklich problematisch finde ich etwas anderes: Das anachronistische Denken der Figuren. Denn die haben ganz offensichtlich schon eine Art der Aufklärung hinter sich, so wie sie alle Religion entweder gar nicht ernst nehmen oder nur als Mittel zum Zweck nutzen. Das sind keine mittelalterlichen Figuren. Genauso der Nationalismus der Geschichte, der selbstverständlich in der Pyle’schen Fassung noch viel stärker war. Nationalistisches Denken, hier der Gegensatz von Angelsachsen und Normannen, ist aber nicht mittelalterlich. Das ist eine Entwicklung viel späterer Jahrhunderte. Das ist wirklich anstrengend.
Irgendwie erscheint das zu oft wie ein schlechtes LARP, moderne Menschen in Gewandung, die sich nur so halb mit dem Mittelalter auseinandergesetzt haben und die Geschichte von Robin Hood nachspielen. Die meisten Reeanctement-Gruppen würden sich schämen.
Ach, ich mag Robin Hood ja so sehr. Aber ich kann nicht mehr, ich werde weitere Romane – es gibt ja noch drei – mir nicht mehr antun. Vielleicht bin ich ja ein Sucker, aber alles hat Grenzen.
Gedanken zu „Das Orakel in der Fremde“ von James A. Sullivan
Einen ähnlichen Beitrag habe ich schon über den ersten Band diese Dilogie geschreiben, über „Das Erbe der Elfenmagierin“. Das hier ist keine Rezension, ich habe nur ein paar Gedanken.
Also, wenn man den minimalen Namensstress überwunden hat – es sind zu viele ähnlich klingende Namen und ich war immer wieder davon überrascht, dass Leute dann doch eine gewisse Grundwichtigkeit überschritten, obwohl ich sie schon lange unter „Wer war das noch mal?“ abgespeichert hatte – und sich damit anfreundet, dass ein paar Actionmomente schon ein Gefühl gaben, dass man aus dem PnP kennt: Oh, die Spielleiterin hat eine 19 geworfen und wir bekommen einen Überfall als Zufallsbegegnung. Ja, dann – ich weiß, dass meine Satzstruktur sich verabschiedet hat – ist dieser zweite Band der Chroniken von Beskadur ein ambitionierter Roman, der so locker mit Klischees herumspielt und sie auf den Kopf stellt, dass es eine Freude ist. Der aber auch schon mal vor lauter Gedanken vergisst, dass er eigentlich eine Geschichte erzählen will.
Aber nicht die Geschichte bleibt, es sind Momente. Momente, in denen der Zukunft der Weg bereitet wird, Momente, in denen Menschen, ähm, Wesen eine Familie bilden, bei der die Blutsverwandtschaft wirklich nicht wichtig ist, Momente, in denen die Gemeinschaft und ihre Solidarität einfach wichtiger ist, als der Heldenmut der einzelnen. Momente voller Innigkeit und Großzügigkeit.
Manchmal hat Beskadur ein bisschen zu viel Sonnenschein. Hier und da ist ja auch Tragik was Schönes, nicht? Die Wesen der Beskadur-Romane sind hier und da ein bisschen sehr vernünftig und sehen freundlicherweise meistens ein, dass es allen besser geht, wenn man zusammenarbeitet. Ich möchte das ja auch gerne glauben. Hopepunk? Ja! Ein bisschen dick aufgetragen? Bisschen …
James A. Sullivan stellt Fragen. Wie funktioniert Familie, wenn die Liebe sogar den Tod überlebt? Wie funktioniert das Zusammenleben, wenn Hautfarben wirklich nur Beschreibungen sind? Wie weit muss das Vergeben gehen? Wie funktioniert Liebe, wenn sie nicht Besitz ist? Die Fragen und ihre Antworten machen den Roman lesenswert. Auch, wenn man weder Elfen noch Luftschiffe mag.
„Das Orakel in der Fremde“ ist selten verwirrend und neu in seiner Erzählstruktur, aber die Art, wie über Beziehung und Familie gedacht ist, die Art wie Klischees und Tropes teils genutzt, teils auf den Kopf gestellt sind, macht den Roman avantgardistisch. Eine Menge Dinge, die viel zu selten so gedacht werden. Die nachwirken. Länger.
Literatur der Veränderung?
Irgendwann habe ich schon mal über das Thema geschrieben oder in einem Podcast gesprochen, aber manchmal muss man bei anderen schauen, um Dinge aussprechbar zu machen. In diesem Video vom britischen Youtuber Shaun demontiert dieser sehr genüsslich, was J.K. Rowling warum geschrieben hat und wie wenig Mühe sie sich oft gegeben hat. Nun ja. Für Potterheads kann das eine sehr schmerzhafte Erfahrung sein. Aber darum geht es mir nicht und ich werde hier auch nicht zusammenfassen, was Shaun sagt. Aber es gibt eine wichtige Beobachtung, die er am Ende des Videos bringt:
Unsere Literatur, unsere Filme, quasi alle Narrative basieren darauf, dass sie von reichen Menschen gemacht oder ermöglicht werden. Das führt dazu, dass sehr viele Tropes dazu führen, dass am Ende der Geschichte der Status Quo wieder etabliert wird.
Bei Harry Potter ist das besonders stark. Die völlig nutzlosen, separierenden Häuser in Hogwarts bleiben was sie waren, die Momente, in denen nach dem finalen Kampf alle an einem großen Tisch saßen, sind vergessen. Dazu haben auch noch alle ihre Jugendliebe geheiratet und führen superlangweilige Leben mitten im Establishment, brrrrrrr.
Aber ganz ähnlich sind auch andere Geschichten welche, die in den Status Quo zurückführen. Alice kehrt aus dem Wunderland zurück, Frodo und Samweis aus Mordor und so weiter und so fort. Und wenn sie nicht gestorben sind, hat sich immer noch nichts geändert.
Wir müssen dafür nicht in die Phantastik schauen. Robin Williams – ach, was vermiss ich ihn – hat gleich mehrfach Rollen gespielt, in denen etwas ähnliches passierte. Oh Captain, mein Captain: Im Club der toten Dichter verändert Williams alias Keating die Welt eines Jungeninternats. Er schafft fast die Revolution, um dann zu scheitern. Gooooood Morning Vietnam! Kronauer macht richtig Party, verbessert die Welt ein bisschen – aber nur so lange, bis er auch aufs Maul bekommt und genauso bedröppelt nach Hause geht, wie Keating vor ihm. Der Status Quo darf sich einfach nicht ändern! Das ist wichtiger, als die Frage, was gut für die Jungen im Internat oder die Soldaten in Vietnam ist.
Irgendwie ist es immer so. Wenn jemand drauf und dran ist, die Welt zum Besseren zu ändern, dann wird das ein Stück weit zugelassen, es werden Erfolge gefeiert, nur um dann das Positive wieder einzustampfen. Weil die Welt so ist, wie sie nun mal ist, und man daran auch gar nichts ändern kann. Oder?
Beim Storystructure-Guru Blake „Katzenretter“ Snyder gibt es dafür eine spezielle Kategorie, ein Storygenre, die Rites of Passage / den Übergangsritus. Ein Punkt im Leben wird erreicht, an dem etwas überwunden werden muss – meistens das Erwachsenwerden, gerne aber auch die Trauer um einen Menschen oder um eine Beziehung. Und das Ziel dieser Geschichte ist immer, dass die Protas akzeptieren, dass sie die Welt annehmen und sich nicht wehren. Und dadurch natürlich auch nichts verändern.
Deswegen finden wir in Kinderbüchern auch besonders oft die Geschichten, die am Ende zeigen, dass es doch so hilfreich ist, zum Status Quo zurückzukehren. Erwachsen werden heißt doch, sich in das Leben des Erwachsenen einzuleben, sich anzupassen und brav daran mitzuarbeiten, dass man die Welt, wie sie jetzt ist, so gerade noch erträgt, oder?
Bastian Balthasar Bux erschafft ganze Welten, aber toll ist doch, dass er am Ende zu Papa zurückkehrt und wieder ein braver Sohn ist, oder? Und wenn wir gerade bei Michael Ende sind: Wie rückwärtsgewandt ist eigentlich Momo? Durch und durch technikfeindlich und wie schön, dass Beppo Straßenkehrer Strich für Strich die Straßen sauber macht und davon kaum leben kann. Ich mein, klar, niemand mag die Grauen Herren, aber deswegen ist nicht alles, was ein bisschen Zeit einspart, vom Teufel. Michael Ende würde das Internet so sehr hassen.
Mir fällt unter den Kinderbüchern kaum eines ein, dass den Status Quo auch nur herausfordert. Selbst Pippi Langstrumpf macht das nicht sehr konsequent.
In meinem Lieblingskinderbuch macht Astrid Lindgren es anders. Bei Ronja Räubertochter haben wir die ganze Verklärung der Kindheit und der Freundschaft, aber auch die kommende Veränderung, schließlich wollen Ronja und Birk ja nicht mehr Räuberhauptmann werden, weil sie nicht wollen, dass Menschen weinen und wütend werden – was eigentlich auch mit dem kategorischen Imperativ zusammen passt. Ronja und Birk sind also auf dem Weg in eine zivilisiertere Zukunft. Das nimmt der Räuberburg vielleicht ein wenig von ihrem anarchistischen Charme, aber wie schön das eigentlich ist. Wir wollen in Zukunft alles etwas freundlicher gestalten, wollen zivilisiert sein und Verantwortung übernehmen – stellt euch mal vor, das wäre üblich?
Ach ja, genau, da bin ich da angelangt, wo ich eigentlich hin wollte. Wie wäre das? Literatur, in der die, die für mehr Menschlichkeit und Solidarität kämpfen, gewinnen? In der Menschen ihre Nische finden, ihr kleines Glück. In der Menschen nicht akzeptieren müssen, dass die Welt nun mal so ist, sondern in der die Menschen die Welt verändern. Das muss ja auch nicht einfach sein. Sind ja genug Geschichten drin.
Zauberhafte Wesen, die zu frei für unsere Gesellschaft sind, müssen auch nicht zu tragischen Figuren werden. Wie wäre es, wenn sie einfach glücklich werden? Ja, auch in Beziehungen, die anders sind, als wir das gewohnt sind. Genau, wie wäre das? Menschen, die zusammen eine Familie bilden, egal, ob es Blutsverwandtschaft gibt und egal, wer mit dem ins Bett geht? Und das wird nicht problematisiert? Wow? Mindblowing?
Ja, ich mag meine tragischen Enden, ja, ich mag auch mal die etwas härtere Gangart. Aber es gibt so viele toxische Tropes, die alle darauf abzielen, dass sich letztlich nichts verändert und der Status Quo geschützt wird. Wir wissen heute, dass „Kill your gays“ so ein Trope ist. Oder der Horrorfilmklassiker: „Menschen, die Sex haben, werden als erste vom Monster gekillt!“ Aber „Die Welt ist halt so und wir können da gar nichts dran ändern“, dieses Trope geht mir noch viel mehr auf den Keks.
Noch ein kleiner Einschub: Der einsame Kommissar, der dem später überführten Mörder eine reinhaut, weil er endlich eine Aussage haben will, ist irgendwie cool, aber auch toxisch. Der Typ muss also selbst zum Verbrecher werden, damit ein Verbrecher überführt wird? Was ist denn da die Moral hinter? Könnten wir auch mit den Weltenrettern aufhören? Die auf eigene Faust die schrecklichen Gefahren überwinden? Können wir die nicht eifnach mal mit Solidarität abwehren? Und nein, es ist eine Scheißidee, auf die Macht zu vertrauen, Luke! Es ist nicht sinnvoll, nicht nachzudenken und auf sein Gefühl zu vertrauen, es ist auch nicht sinnvoll, auf irgendwelche Magie oder imaginäre Helfer zu vertrauen. Rationalität und Solidarität sind weit vorzuziehen.
Okay, ich kriege das nicht geschlossener hin. Es tut mir leid. Vielleicht in einem späteren Text. Ich hätte gerne eine Literatur der positiven Veränderung. Ich möchte, dass wir die Bilder erzeugen, die uns als Utopien antreiben können, die Welt ein bisschen besser zu machen. Ein klügeres und eloquenteres Fazit habe ich leider nicht.
Mary Robinette Kowal – „Die Berechnung der Sterne“ – Rezension
Science Fiction, die in der Vergangenheit spielt, ist meistens etwas älter, datiert auf Jahreszahlen zurück, als die beschriebenen Zeiten weit in der Zukunft lagen. Es gibt aber auch die Alternate History, in der sich die Zeitlinie etwas anders entwickelt hat, gerne durch ein größeres Ereignis. Auf genau diese Weise kommen wir in „Die Berechnung der Sterne“ in ein manchmal beklemmendes Panorama der 50er Jahre in den USA, wie sie auch hätten sein können.
Elma und Nathanael York sind mit ihrer Cessna zu einem Liebeswochenende ins Landesinnere geflogen, als eine Weltkatastrophe passiert, wie sie alle paar Millionen Jahre vorkommt. Ein Meteor hat die USA getroffen – und zwar ausgerechnet kurz vor Washington DC – und damit nicht nur einen mehrjährigen Winter ausgelöst, sondern durch ungeheure Mengen von Wasserdampf in der Atmosphäre auch einen beschleunigten Treibhauseffekt ausgelöst, der die Menschheit in wenigen Jahrzehnten ausrotten kann.
Da kommt Elma drauf, als sie ein paar Berechnungen anstellt – sie ist ein menschlicher Computer, hat den Doktor in Mathematik und Physik und rechnet im Kopf Dinge, die kaum jemand auf Papier rechnen kann – und elektronische Computer gibt es noch nicht. Nathanael ist der Chefingenieur des in dieser alternativen Zeitlinie etwas beschleunigten Raketenprogramms der USA, rechnet mühevoll die Zahlen seiner Frau nach und zusammen überzeugen sie den ehemaligen Landwirtschaftsminister, der als einziger Überlebender aus der US-Regierung zum Präsidenten aufgestiegen ist, dass die einzige Möglichkeit, die Menschheit zu erhalten, darin besteht, den Mond und den Mars zu besiedeln. Und nun beginnt die Eroberung des Weltraums.
Wenige Jahre später schicken sie mit Stetson Parker den ersten Mann ins Weltall, nicht innerhalb der Nasa, sondern einer internationalen Raumfahrtagentur, die sich gebildet hat, weil allgemein anerkannt wird, dass man auf die bald einsetzende Klimaerhitzung mit Raumfahrt reagieren muss. Leider ist Stetson Parker nicht nur ein ziemlicher Macho, sondern auch noch so etwas wie ein Erzfeind von Elma, denn im Zweiten Weltkrieg – als sie als eine WASP für die Streitkräfte Flugzeuge überführte – hat sie Parker wegen Belästigung angezeigt.
Elma will selbst Astronautin werden, und Stetson Parker schwört, dass er dafür sorgen wird, dass das nie passiert. Aber das ist für Dr. Elma York, die bald als Lady Astronaut durch eine Kinderfernsehsendung bekannt wird, eher noch ein Ansporn.
Elma ist die Ich-Erzählerin der Geschichte mit einigen wunderbare Marotten – sie beruhigt sich beispielsweise dadurch, dass sie Stellen von Pi oder die Fibonacci-Zahlenreihe aufzählt – verloren gehen. Sie ist eine großartig gezeichnete Figur, eine junge jüdische Frau mit Sinnlichkeit und gleichzeitiger damenhafter Prüderie – „was sollen denn die Leute denken?“ – , humorvoll und lebenslustig und so allein in der Welt, in der sie nur noch ihren Mann und den in Kalifornien lebenden Bruder hat – die restliche Verwandtschaft nahm erst die Shoah und dann der Meteor. So klug und schnell sie ist, so fragil kann sie auch sein – und hin und wieder trifft sie auch das eine oder andere Fettnäpfchen und dann auch mit Anlauf.
Wer Weltraumaction erwartet, liegt naturgemäß falsch – so richtig actionreich war ja auch die reale Weltraumfahrt bisher eher selten. „The Calculating Stars“, so der Originaltitel, ist eine Auseinandersetzung mit einer für uns recht ferne Vergangenheit, eine Geschichte von Misogynie und Rassismus, die viele ernste Momente hat – und nebenbei oft saukomisch ist. (Manchmal auch fast pubertär albern, was mich erst irritierte. Als ob Frauen das nicht sein dürften.) Kapitel werden von fiktiven Zeitungsartikeln eingeleitet, die oft auf realen Artikeln aus den 50er Jahren basieren. Deren Wording bringt fast jedes Mal Fremdscham ohne Ende und oft irres Kichern.
Das in den Titeln jeweils was mit Rechnen steht, ist übrigens absolut ernst gemeint. Dieser Roman ist eine Verneigung vor der Mathematik, vor dem Spiel mit Zahlen, vor den unglaublichen Leistungen, zu denen Menschen mit Zahlen fähig sind. Elma rechnet halt Differentialgleichungen im Kopf, und? Unmöglich? Keineswegs, wenn auch nicht einfach. Die Beiläufigkeit, mit der Mathematik hier passiert und die positive Einstellung, die der Roman vermittelt, sind ein wirklich angenehmer Kontrast zu der Mathematikfeindlichkeit und der Verächtlichkeit, mit der heute oft über dieses Fach gesprochen wird. Ohne Mathematik wären wir noch in der Steinzeit und es ist chic, kein Mathe zu können. Okay, ich sollte zum Thema zurück. (Nicht, dass ich noch darüber rante, dass es auch chic ist, nicht zu lesen …)
Ungewöhnlich, aber wohltuend, keine der Figuren wird einfach in gut und böse eingeteilt und muss dann für immer dort bleiben. Ja, Stetson Parker ist der Bad Guy des Romans, aber auch er darf ein geduldiger Lehrer sein, ein guter Pilot und jemand, der für die gemeinsame Sache brennt. Menschen ins All bringen. Was für ein großartiger Plan. Und viel zu wichtig, um zu einem beiläufigen Spiel von viel zu reichen Menschen zu werden – ach, ich schweife schon wieder ab.
Mary Robinette Kowal bringt ihre Lesenden in eine prüde und patriarchale Gesellschaft, in vielen Regeln und Traditionen gefangen – aber auch in eine Zeit der Fortschrittsgläubigkeit und eine Zeit, in der man der Wissenschaft vertraut – durchaus auch in übertriebenem Maße. (In den realen 50ern trug man schon mal Armbanduhren, die im Dunklen leuchteten, weil ziemlich radioaktive Stoffe verarbeitet waren, und ja, diese Armbanduhren brachten vor allem ihre Erbauer gerne mal um.) Natürlich kämpft man auch mit unwissenden Senatoren und es gibt auch bibeltreue Wirrköpfe, die mit Gewalt gegen Raketen vorgehen wollen. Aber insgesamt sieht man den Weltraum als ein großartiges Projekt – und wer das Problem versteht – auch als einzige Chance einer zum Tode verurteilten Menschheit.
Und ganz nebenbei ist „Die Berechnung der Sterne“ ein wahrlich aktuelle Geschichte. Elma hat als jüdische Frau zwei Gründe um diskriminiert zu werden – und über ganz lange Zeit trifft sie keinerlei Antisemitismus, nur um gegen Ende einmal die grobe Kelle abzubekommen – hauptsächlich muss sie darum kämpfen, als Frau überhaupt ernst genommen zu werden. Aber im Moment der Not hilft ein schwarzes Ehepaar ihr und Nathanael und sie freunden sich an – und hier lernt Elma die andere Seite von Diskriminierung zu verstehen, denn natürlich ist sie als Weiße überprivilegiert, also im Vergleich zu den schwarzen Freunden.
Hier werden die Strukturen von systemischer und oft auch internalisierter Diskriminierung offen gelegt, und das nie plakativ. Alles atmet diese drögen 50er Jahre, alles atmet Fassade und Status und gesellschaftliche Kontrolle – insbesondere natürlich über weiblich gelesene Körper. Und trotzdem sind viele der Figuren absolut glaubhaft und durchaus liebenswert und ein bisschen wohlfühlig ist vieles auch, denn Elma hat einen liebenden Mann, einen toll gezeichneten Bruder und echte Freund*innen, die ihr auch mal aufhelfen dürfen, wenn sie mal wieder an sich selbst scheitern möchte, an dem Bild, dass sie von sich selbst hat.
Eine andere Aktualität ist natürlich die Klimaerhitzung, die wir auch ganz ohne Meteoreinschlag über die Kipppunkte bringen, weil unsere Politik versagt. Und wir forschen noch nicht mal mehr ernsthaft an Mond- oder Marsflügen. So unangenehm diese 50er Jahre sicher oft waren, und das schimmert in diesem Roman nicht nur durch, so ist es eine Zeit der Hoffnung und die alternative Zeitlinie der Lady Astronaut ist eine Zeit, in der große Probleme von Regierungen nicht in Kompromissen erstickt, sondern schlicht angegangen werden. Kowal nennt das Buch punchcard punk – Lochkartenpunk – es ist aber auf eine verquere Art – weil die Geschichte ja in einer Vergangenheit spielt – auch echter Hopepunk.
Für mich ein klarer Anwärter auf das Buch des Jahres. Selten so viel Spaß mit einem Buch gehabt. Absolute Leseempfehlung.